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Das Beispiel Taxigewerbe - wie der Mindestlohn umgangen wird

von kraftfahrer — Letzte Änderung 03.04.2015 11:09

Erfahrungberichts eines Berliner Taxifahrers zu den Methoden der Unternehmen, den Mindestlohn auszuhebeln.

Das Taxigewerbe gehört zu den Branchen, wo die Löhne bislang unterhalb von 8,50 Euro die Stunde lagen. Als Besonderheit kommt hinzu, dass es fast keine Festlöhne gab, sondern nur Provisionsanteile am selbst eingefahrenen Umsatz. Also müssten sich die angestellten Taxifahrer jetzt eigentlich freuen, bekommen sie doch endlich ein höheres Salär, das zwar nur knapp für Alleinstehende auskömmlich, aber immerhin sicher ist und Ausgabenplanungen ermöglicht. Dem ist leider nicht so.

Der Mindestlohn ist bei den Unternehmern unbeliebt, können sie doch das Ausfallrisiko nicht mehr wie bisher auf die Beschäftigten abwälzen. Eingedenk des schwachen gewerkschaftlichen Organisierungsgrads, aber auch der üblichen persönlichen Absprachen und der eher selten vorhandenen schriftlichen Arbeitsverträge wird das Gesetz als eine Angelegenheit betrachtet, die nur auf dem Papier steht und folglich zu umgehen sei.

Fiskaltaxameter und konsequente Kontrollen des Zolls sind vielerorts noch nicht in der Alltagsrealität angekommen. Das arbeitgebernahe Anwaltsbüro ETL listete in einer Veröffentlichung auf seiner Webseite vom 29.1. nicht weniger als neun verschiedene «Strategien zur Umgehung des Mindestlohns» auf. Die meisten, wie die Umwandlung von Arbeitsverhältnissen in Praktika, Verzichtserklärungen des Arbeitnehmers oder erkverträge/Leiharbeit werden völlig zutreffend als nicht rechtmäßig verworfen.

Die Verkürzung der Arbeitszeit – insbesondere in die «Gleitzone» zwischen 450 und etwa 800 Euro – wird jedoch süffisant als Umgehungsmethode und Einhaltung des Gesetzes zugleich empfohlen.

Wenn es möglich wäre, als Taxifahrer dasselbe Einkommen in 8 Stunden statt in 12 Stunden Arbeitszeit zu erzielen, wäre aus gewerkschaftlicher Sicht nichts gegen eine Arbeitszeitverkürzung einzuwenden. Die tatsächliche Entwicklung im Gewerbe seit Jahresbeginn zeigt jedoch auf, dass dies keineswegs beabsichtigt ist. Stattdessen werden nahezu flächendeckend Standzeiten am Halteplatz aus der Berechnung der Arbeitszeit herausgenommen und als Pausen deklariert. Das ist illegal, weil hier Arbeitsbereitschaft vorliegt, die mit mindestens 8,50 Euro entgolten werden muss. Zudem wird das Arbeitszeitgesetz, insbesondere die Pausenregelung, verletzt.

Die Schlichen

Die Situation an der Halte ist mit der Bereitschaft in Krankenhäusern oder bei der Feuerwehr zu vergleichen. Bei einer tatsächlichen Pause hingegen muss ein Taxifahrer das Fahrzeug verlassen und sich entspannen können – ohne Funkgerät im Ohr.

Die Arbeitgeber im Taxigewerbe ficht all das nicht an. Sie suchen nach Tricks und Kniffen, die Vorgaben zu umgehen. Von Kollegen sind mir folgende Varianten bekannt:

– Die Taxiunternehmen bezahlen weiterhin nach individueller Provision. Sie bestimmen willkürlich deren Anteil, teilen das Ergebnis durch 8,50 Euro und «errechnen» so die Stunden, in denen es angeblich eingefahren wurde. Die tatsächliche Arbeitszeit ist in der Regel höher. Im Taxigewerbe übliche Abrechnungssysteme, z.B. taxiwin, laufen nach wie vor auf Provisionsbasis.

– In einem neuen Arbeitsvertrag (Änderungskündigung) wird festgehalten, dass eine fixe Stundenzahl als abgegolten gilt. Alles was darüber hinaus tatsächlich gearbeitet wird, sind unbezahlte Überstunden. Ggf. wird das mit Umsatzvorgaben verbunden, die in der abgegoltenen Zeit nicht erreichbar sind;

– Eine neue Generation von Taxametern, u.a. der Firma Semicon, hat einen sog. «Totmannschalter». In mehreren großen Firmen in Berlin ist er so programmiert, dass bei Standzeiten alle drei Minuten eine bestimmte Tastenkombination eingegeben werden muss, ansonsten rutscht man in den Pausenmodus. Das ist schikanös, da in drei Minuten zur Arbeit gehörende Dinge wie Geldwechsel in einem Geschäft nicht erledigt werden können, auch keine Toilettenbesuche.

– Viele Unternehmen ordnen jedoch an, die Taxameter an der Halte bewusst im Pausenmodus laufen zu lassen, und verbieten, den Schalter zu drücken. Sie bezahlen die Arbeitsbereitschaftszeiten nicht, fordern zur Gesetzesumgehung auf und machen sich strafbar. Kollegen erkundigen sich bei Ver.di nach der Rechtslage, möchten aber in den meisten Fällen nichts dagegen unternehmen, da sie ihren Arbeitsplatz nicht verlieren wollen.

Wo bleibt die Kontrolle?

Die Ursachen dafür sind strukturell: Bei gleichbleibender bis ückläufiger Nachfrage sind Überkapazitäten von Taxen unterwegs. In Berlin werden nach Belieben der Unternehmen neue Taxikonzessionen erteilt, auch ein Jahr im Voraus – so lassen sich nach Betriebsschließungen «Strohmänner» einsetzen. Auch in Städten mit offiziellem Konzessionsstop werden die vorhandenen Konzessionen und Taxen nicht weniger.

Dies hat Effekte wie bei einer Überproduktionskrise: Es gibt zu ein zu hohes Angebot an Taxidienstleistungen, die Arbeitgeber versuchen dennoch, Profite durch verstärkten Druck auf die Löhne zu erreichen.

Ein Mindestlohngesetz, das nicht mit regulierenden Eingriffen in die Gewerbestruktur verbunden ist, sondern wo diese dem «freien Spiel des Marktes» überlassen bleibt, bewirkt somit die paradoxe Situation, dass die abhängig Beschäftigten nicht etwa mehr Lohn und soziale Sicherheit erhalten, sondern noch stärker in prekäre und gesetzwidrige Arbeitsbedingungen gepresst werden.

Die Behörden, die die Einhaltung des Mindestlohns kontrollieren sollen, werden von sich aus nicht tätig, da sie andere Interessen verfolgen als die Lohnabhängigen. Es gilt also, auf sie Druck auszuüben, Solidarität unter den Kollegen zu entwickeln und auch auf der Straße Öffentlichkeit zu schaffen, damit möglich wird, dass angestellte Taxifahrer von ihrem Einkommen leben können, ohne mit einem Bein im Gefängnis zu stehen.

Der Erfahrungsbericht des Kollegen wurde zuerst veröffentlicht in der SoZ

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