2014

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27.03.2014

Einschätzung des Berliner Einzelhandelsstreik 2013

von Streikende — Letzte Änderung 27.03.2014 21:18

Labournet.tv hat sich zum Jahresende 2013 mit dem Streik im Einzelhandel beschäftigt. Wir dokumentieren nachfolgend ihre Einschätzung des Berliner Einzelhandelsstreik 2013 als Diskussionsbeitrag.

Der Einzelhandel, die Beschäftigten, die Situation am Arbeitsplatz

In der BRD arbeiten 3,2 Millionen Menschen im Einzelhandel. In Berlin ist der Einzelhandel sogar der größte Arbeitgeber. In der letzten Tarifrunde 2007/2008 haben die Beschäftigten einen Teil der Zuschläge für Spät- und Nachtarbeit verloren und die nach einer 18 Monate andauernden Tarifauseinandersetzung erkämpften Lohnsteigerungen lagen unterhalb der Inflationsrate. Zudem wird ihre Arbeit seit Jahren kontinuierlich verdichtet und flexibilisiert.

Vor diesem Hintergrund hatte die Kündigung der Manteltarifverträge am im Januar 2013 eine mobilisierende Wirkung unter den Beschäftigten. Ein solcher Angriff ist bisher einmalig (Artikel von Karin Zennig in der ak). Neben den Kürzungen der Urlaubsansprüche, Sonderzahlungen sowie der Zuschläge für Spät-, Nacht- und Feiertagsarbeit forderten die Arbeitgeber von Anfang an auch explizit Verhandlungen über eine weitere Flexibilisierung der Arbeitszeiten: Die Beschäftigten sollen dann kommen, wenn Arbeit da ist und nach Hause geschickt werden können, wenn keine da ist.

Die Gewerkschaft kündigte Kampfmaßnahmen an und 25.000 Beschäftigte traten bundesweit in ver.di ein, um für die Wiederherstellung der Manteltarifvertrages und mehr Lohn zu kämpfen. Es gab bundesweit Streikaktionen. Deren Zentrum lag in Baden-Württemberg. Dort gab es je nach Unternehmen durchschnittlich ca. 50-80 Streiktage.

Nichts gelernt aus dem letzten Streik 2007/2008?

In Berlin-Brandenburg rief ver.di nur punktuell zum Streik auf. Die Kaiser's Kassiererin Barbara E., bekannt als Emmely, war bis Anfang Dezember 2013 insgesamt 6 mal zum Streik aufgerufen worden. Auf die Frage eines Journalisten wurde als Rechtfertigung für die wenigen Streiktage zu Protokoll gegeben, dass es zu wenig Sekretärinnen gebe, um mehr Streiks zu organisieren. - Es ist jedoch davon auszugehen, dass es auch daran liegt, dass die Selbsttätigkeit der Frauen an der Basis unterbunden wird, aus einer Haltung heraus, die in dem Film Ende der Vertretung von der Streikrunde 2007/2008 dokumentiert ist.

Wie in der letzten Tarifrunde vermied es die Gewerkschaft zudem, durch strategisches Vorgehen Druck aufzubauen. Es gab keine bundesweite Koordinierung der Streiks. Aber auch lokal begrenzte startegische Aktionen mit dem Ziel, Filialen wirklich in Schwierigkeiten zu bringen, gab es nicht. Etwa die Warenlager zu bestreiken, sodass Montags die Regale in den Supermärkten leer wären, wie es eine Kolleginnen in der letzten Streikrunde vorgeschlagen hatten. Strategische Überlegungen einer real Mitarbeiterin (Video von kanalB)

Niederlagen anhäufen

Die Entschlossenheit der Gewerkschaft, die Handlungsmacht der Beschäftigten nicht konsequent gegen die Arbeitgeberschaft in Stellung zu bringen, führt dazu, dass es den Arbeitgebern seit Jahren gelingt, in der Branche Verschlechterungen durchzusetzen. Jede Tarifrunde beginnt mit einem Angriff der Arbeitgeber und endet mit Verlusten auf Seiten der Arbeitnehmer_innen. Die erkämpften Lohnsteigerungen bleiben z.T. unterhalb der Inlationsrate, auf jeden Fall aber immer unterhalb der für Geringverdiener_innen wichtigen Teuerungsrate von 5% im Jahr, sodass die Menschen, die im Einzelhandel arbeiten, de facto immer ärmer werden, immer schneller arbeiten müssen und ihre Arbeitszeit immer weniger planen können.

Die zahme Haltung von ver.di ist aber auch deshalb skandalös, weil die Einzelhandelsbranche nicht mit Produktionsverlagerungen drohen kann, ihr also ein in anderen Branchen gerne zumindest als Drohung ins Spiel gebrachtes Machtmittel fehlt.

Keine kritische Öffentlichkeit: Weder in bürgerlichen* *noch in linken Medien

Die Presse hat sporadisch über bestimmte Streikaktionen berichtet, ohne aber das Vorgehen der Gewerkschaft und den Streikverlauf kritisch unter die Lupe zu nehmen und vor allem ohne die Beschäftigten selbst zu befragen. Hier haben wir versucht mit unsere Videoberichterstattung eine Lücke zu schließen. Wir waren bei vier Streikaktionen dabei.

Im Oktober in Steglitz haben wir uns erklären lassen, dass für Warenverräumer auf den Spiel steht, bis zu 5 Euro die Stunde weniger zu verdienen und ihre Zuschläge zu verlieren.

Am 6. Dezember wurde ein Tarifabschluß für Baden Württemberg geschlossen. Obwohl eine Billiglohngruppe für Warenverräumer_innen eingeführt wurde, die ab April 2014 nur noch 9,74 Euro pro Stunde verdienen werden, bejubelte nicht nur die FAZ, sondern auch die junge Welt den Abschluß als Erfolg für die Beschäftigten. Die junge Welt empfiehlt ihn sogar zum Abschreiben für andere Bundesländer: "Plagiate erwünscht". - Die Kolleg_innen, die wir am selbe Tag interviewt haben, sind weniger begeistert: Ein Kollege der bei Ikea als Gabelstaplerfahrer und Verräumer arbeitet, bedauert die Einführung einer Niedriglohngruppe für Verräumer_innen.

In unserem Clip von einer Streikkundgebung am 12.12. in Oranienburg erklärt ein Betriebsrat von Kaufland, welche Konsequenzen dieser Abschluß im Betriebsalltag haben wird:

Zu den erfreulichen Seiten der Streikrunde in Berlin-Brandenburg gehörte die Unterstützung durch linke Gruppen aus dem Blockupy Bündnis

Die Beschäftigten hätten auch etwas zu sagen...

In der Analyse der Beschäftigten, die wir interviewt haben, werden zwei Punkte stark gemacht, die von der Presse weitgehend ausgeblendet werden. Erstens, dass die Einführung einer Billiglohngruppe ein negatives und kein positives Faktum darstellt, weil sie es Unternehmen in Zukunft erlauben wird, fest angestellte Verräumer_innen für weniger Geld arbeiten zu lassen als bisher. Dass sie als ausgelagerte Werksverträgler noch weniger verdient hatten, macht die Sache nicht besser, sondern die Auslagerung selbst ist ein weiterer Beleg dafür, wie sehr die Standards in der Branche in den letzten Jahren gesunken sind. Zweitens wird der neue Tarifvertrag als trojanisches Pferd missbraucht werden, um nicht nur Verräumer_innen, sondern auch Beschäftigte, die andere Tätigkeiten ausführen, nach dem Billigtarif bezahlen zu lassen. Dass das illegal wäre, wird im Betriebsalltag möglicherweise keine große Rolle spielen, da die Betriebsräte, die in theoretisch der Lage wären Legalität herzustellen, oft entweder nicht vorhanden sind oder beide Augen zudrücken. Ein Beleg für letzteres ist, dass bei allen Lebensmitteldiscountern regelmäßig unbezahlte Überstunden geleistet werden, - auch bei denen die einen Betriebsrat haben.

Aus unserer Sicht gibt es zwei politische Probleme mit der Streikberichterstattung. Erstens, dass es die Stimme der streikenden Kolleg_innen nicht in die Berichterstattung schafft. Sie sind bestenfalls Statist_innen für die Berichte, in denen Gewerkschaftssekretär_innen ihre Sicht auf den Streik verlautbaren dürfen. Zweitens, dass die Presse selbst keine Vorstellung davon hat, was in einem Tarifkonflikt erreicht werden müsste, sondern sich regelmäßig die Einschätzung der Gewerkschaft zu eigen macht und den Abschluss daran misst, ob die Gewerkschaft darin ihre selbst gesteckten Ziele durchgesetzt hat oder nicht, kurz: dass sie den jeweiligen Streik durch die Brille der jeweiliges zuständigen DGB Gewerkschaft anschaut.

Damit wurde die Chance vertan, während eines großen bundesweiten Streiks Öffentlichkeit für die Lage der Beschäftigten und ihre strategische Einschätzung des Streikgeschehens herzustellen. Auch die sehr in die Tiefe gehenden Berichte von Anton Kobel im Express blieben letztlich der gewerkschaftlichen Sichtweise verpflichtet, wenn sie auch die sozialpartnerschaftliche und undemokratische Tendenz innerhalb der Gewerkschaft kritisieren. Grundsätzlich ist die unhinterfragt affirmative Haltung, die linke Medien der Gewerkschaft gegenüber oft einnehmen, ein großes Problem in Hinblick auf die Aufgabe, die Verhältnisse zugunsten der Ausgebeuteten zu verändern.

Vor diesem Hintergrund hoffen wir, mit unserer Videoberichterstattung der linken Presse Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um die Position der Beschäftigten selber mehr in ihre Berichterstattung einzubeziehen.