Dichtung und Wahrheit bei Clariant
Seit Hariolf Kottmann an der Spitze von Clariant steht, hat er vor allem eines getan: Arbeitsplätze vernichtet. Um seinen schlechten Ruf als Jobkiller zu verbessern, will er der Öffentlichkeit glaubhaft machen, er könne nicht gut schlafen, „wenn Entlassungen anstehen“ (BaZ, 23.07.09), und zudem den Eindruck erwecken, der radikale Arbeitsplatzabbau sei wirtschaftlich notwendig. So behauptet er beispielsweise in einem Interview mit „Finanz und Wirtschaft“: „Clariant liegt in allen wichtigen Vergleichszahlen im untersten Drittel von 20 bis 25 Konkurrenten.“ [1] Was er mit „allen wichtigen Vergleichszahlen“ meint, das bleibt sein Geheimnis.
Hariolf Kottmann jongliert gerne mit Zahlen. An der Clariant Generalversammlung im April 2009 hat er den versammelten Aktionären verkündet: „Wir konnten unseren ROIC, die Rendite des investierten Kapitals, von 7,8% in 2007 auf 9% in 2008 steigern. Diese Finanzkennzahl, der ROIC, ist innerhalb der chemischen Industrie eine wichtige vergleichende Messgröße.“ [2] Eine Kapitalrendite von 9 % - es scheint Clariant also nicht so schlecht zu gehen, dass dringend Arbeitsplätze abgebaut und Leute entlassen werden müssten! Das bestätigt indirekt auch Kottmann selbst, der an der erwähnten Aktionärsversammlung anfügte: „Die Bilanz unseres Unternehmens ist weiterhin sehr gesund. Wir verfügen über eine ausreichende Liquidität und haben keine Notwendigkeit, uns bis Mitte 2011 zu refinanzieren. Damit befinden wir uns in einer sehr guten Situation in einer Zeit, in der Kredite entweder nicht zu haben oder wirtschaftlich nicht tragbar sind.“
Wenn die Bilanz von Clariant „weiterhin sehr gesund“ ist, weshalb denn die angebliche Notwendigkeit zu einem derart drastischen Arbeitsplatzabbau? Zwar sind auch bei Clariant die Umsätze zurückgegangen, es sieht allerdings ganz danach aus, als benütze Kottmann die Wirtschaftskrise als Vorwand, um auf dem Buckel des Personals seine ehrgeizigen Pläne zu verwirklichen. Wie er an der GV im April erklärt hat, will er „die Krise als Chance nutzen“, um „in der Chemieliga einige Plätze nach oben zu klettern“. Hier sieht Kottmann offenbar seine Aufgabe, was er auch im erwähnten Interview mit „Finanz und Wirtschaft“ mit folgenden Worten zum Ausdruck bringt: „Ich bin hier angetreten, um das grösste Problem anzugehen: den Abstand zu den Wettbewerbern aufzuholen.“ An der GV im April hat er behauptet, Clariant liege „bezüglich der wesentlichen Leistungskriterien fast durchweg hinter dem Wettbewerb zurück“ und als Beweis dafür angeführt: „Unsere EBITDA-Marge lag 2007 mit 9,5% lediglich am unteren Ende des Industrievergleichs.“
Da staunt der Laie und der geneigte Leser wundert sich, was es denn mit dieser „EBITDA-Marge“ auf sich habe. Gemäss Wikipedia ist das EBITDA eine betriebswirtschaftliche Kennzahl, dessen praktische Aussagekraft in der Finanzanalyse jedoch umstritten sei: „Ein positives EBITDA sagt nichts darüber aus, ob ein Unternehmen tatsächlich profitabel ist.“ Noch deutlicher wird Fredmund Malik, Professor für Betriebswirtschaft an der Elite-Uni St. Gallen: „Ebit wurde aber vor dem Anwachsen der Börsenblase selbstverständlich niemals dazu benutzt oder empfohlen, ein Unternehmen zu führen. Diese Kennziffer wurde ausschließlich eingesetzt, um Unternehmen zu vergleichen. (...) Was also für den Vergleich erfunden worden war, wurde unter dem Einfluss des Shareholder-Values in den neunziger Jahren zu einem Führungsmaßstab - der erste Schritt zur Falschführung. Die weiteren Schritte waren vorherbestimmt und unvermeidbar: Es kamen Ebitd, Ebitda und so weiter, alles Kennziffern, die aus der Betrachtungswelt von Buchhaltern, Wirtschaftsprüfern und Investmentbankern stammen, für die Führung eines Unternehmens aber völlig unbrauchbar sind.“ Die eigentliche Fehlentwicklung, führt Professor Malik weiter aus, habe mit der Verwechselung der Betrachtungsweise und Zwecksetzung der Unternehmensführung mit jener der Investoren und ihrer Berater begonnen. „Es war gleichzeitig die Verwechslung des realwirtschaftlichen Zwecks eines Unternehmens mit finanzwirtschaftlichen Zwecken von Anlegern. Diese Verwechslung öffnete die Tore für eine geschichtlich einmalige Periode der scheinbar legitimen Bilanzmanipulation, Bilanzfälschung, des Betruges am Publikum und der exzessiven Einkommensgestaltung von Managern.“ [3]
Eine EBITDA-Marge „am unteren Ende des Industrievergleichs“ als Rechtfertigung für Massenentlassungen? Kennziffern aus der Welt der Investmentbanker als Entscheidungsgrundlagen für die Schliessung oder Weiterführung ganzer Werke und Anlagen? Wer ein Industrieunternehmen so führt, der richtet es zugrunde! Das scheint selbst Kottmann zu ahnen, wenn er auf die Frage von „Finanz und Wirtschaft“, ob es denn genüge die Kosten runterzufahren, zugibt, dass Clariant sich damit „nur zu Tode sparen“ würde. Dennoch geht er unbeirrt seinen Weg und kündigt bereits an: „Noch dieses Jahr werden wir erste Aussagen machen, welche Werke geschlossen und welche Anlagen weiterbetrieben werden. All diese Massnahmen werden 2009 und 2010 zu einem weiteren Personalabbau führen.“
Wer könnte Kottmann aufhalten? Wenn es jene nicht tun, die ihn geholt haben, dann müssen die Beschäftigten bei Clariant zur Tat schreiten, indem sie Kottmann die Gefolgschaft verweigern. Und das lieber heute als morgen, jedenfalls bevor es zu spät ist. Das Schicksal zahlreicher, einst stolzer Schweizer Industrieunternehmen sollte eigentlich Warnung genug sein.
Rainer Thomann
Der Verfasser, der seit 1991 erfolgreich einen kleinen Industriebetrieb leitet, ist Mitglied der Gewerkschaft Unia. Kontakt: indiana.thomann@bluewin.ch