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Der letzte Schienenbauer kämpft ums Überleben

Trotz vieler Aufträge und Überstunden soll das Duisburger Unternehmen TSTG geschlossen werden. Die Mitarbeiter hoffen nun auf Hilfe der Politik

Fast 40 Jahre arbeitet Heinz-Georg Mesaros für das Duisburger Schienenbauunternehmen TSTG. Und das würde er am liebsten bis zur Rente machen. Doch Deutschlands letzter Schienenbauer wird geschlossen. Vielleicht schon zum Jahresende. Das hat der Vorstand so beschlossen. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen, heißt es. Mesaros kann das nicht verstehen. Der 54-Jährige hat im betrieblichen Qualitätswesen angefangen, war dann Techniker beim Abnehmen und Prüfen der Schienen, hat den Verkauf an die österreichische Voestalpine mitgemacht und kämpft jetzt als Betriebsratsvorsitzender ums Überleben. Um das eigene und auch um das der noch verbliebenen 450 Mitarbeiter: "Von der Schließung habe ich per Mail erfahren."

Das war der 13. März um 20.16 Uhr. Daran erinnert sich Mesaros noch ganz genau. Fünf Minuten später gab es eine Rundmail vom Mutterkonzern an alle Mitarbeiter. "Ich war völlig bedröppelt, musste mich aber sofort um die Kollegen kümmern", sagt Mesaros. Dabei tagte nur wenige Tage zuvor der Aufsichtsrat, dessen Mitglied Mesaros ist. Kein Wort war darüber gesprochen worden.

Klar, viele wussten, dass es dem Unternehmen in den vergangenen Jahren nicht gut ging. Der Großkunde Deutsche Bahn war weggeblieben, auch andere Aufträge brachen weg. Unternehmenssprecher Peter Felsbach sagte, dass wegen eines bereits gebuchten Auftrags für Libyen Kapazitäten im Werk angepasst werden mussten, zwei Sozialpläne mit Betriebsrat und IG Metall deshalb vereinbart wurden. Es gab Kapazitätsanpassungen von 280.000 Tonnen Schienen pro Jahr auf 210.000 Tonnen pro Jahr.

Ein Grund der Misere liegt nach Einschätzung von IG Metall und Betriebsrat im Kartellverfahren. Das Unternehmen hat selbst angekündigt 205 Millionen Euro dafür zur Seite zu legen. Denn die TSTG ist eine jener Voestalpine-Töchter, bei denen die Behörden im vergangenen Jahr Razzien wegen des Verdachts auf Preisabsprachen durchgeführt haben.

Unter dem Namen "Schienenfreunde" sollen zahlreiche Unternehmen seit Mitte der 90er-Jahre die Preise für Bahnschienen künstlich hoch gehalten haben. Das Kartell wurde erst durch die Ermittlungen des deutschen Kartellamtes im Mai 2011 zerschlagen. Allein der Deutschen Bahn soll so ein Schaden von bis zu einer Milliarde Euro entstanden sein. Mit dem laufenden Verfahren und einer möglichen Kartellstrafe habe die Rückstellung aber nichts zu tun, wird im Unternehmen betont.

Duisburgs IG Metall-Geschäftsführer Dieter Lieske sieht dennoch einen Zusammenhang: "Die Mitarbeiter müssen bluten, weil das Unternehmen sein Vertrauen im letzten Geschäftsjahr verzockt hat. Und der Konzern offensichtlich seine Geschäftsfelder neu ordnet und vorwiegend im Ausland neu investieren will, wie beispielsweise in Brasilien." Dabei würde gerade jetzt das Geschäft mit den Schienen wieder gut funktionieren. Die Auftragsbücher sind voll wie nie. Ein großer Auftrag - etwa 95.000 Tonnen - wird gerade ausgeführt. Zum Kampfpreis angeboten wegen der extremen Wettbewerbssituation. Sagt der Unternehmenssprecher.

Rund 30.000 Tonnen Schienen werden für den Irak gefertigt, dann gibt es Aufträge für die belgische und die holländische Bahn, auch für Dänemark. Gerade erst waren Vertreter der französischen Staatsbahn im Duisburger Werk, um einen Auftrag auszuloten. Diverse Straßenbahnschienen werden für den Export nach Finnland und Aruba gefertigt. Insgesamt 260.000 Tonnen Schienen in diesem Geschäftsjahr. Dabei war vom Unternehmen ein Budget von nur 210.000 Tonnen vereinbart worden.

Um alle Kunden "just in time" zu versorgen, machen die Mitarbeiter derzeit sogar Überstunden, sie verstehen somit gar nicht, warum ihr Betrieb demnächst schließen soll. Die meisten von ihnen sind seit etlichen Jahren im Unternehmen, alles langjährige Mitarbeiter, das Durchschnittsalter liegt bei knapp 50. Noch vor ein paar Jahren waren hier sogar noch 500 Leute beschäftigt.

Die Schließungspläne haben die Mitarbeiter stark verunsichert. Sie haben Zukunftsängste, wissen nicht, was für Jobs sie noch mit Ende 40, Anfang 50 finden sollten. Gerade in der Region sei das nicht einfach, sagen viele von ihnen.

Wenn das Schienenwerk stirbt, sei das auch ein Sterben deutscher Industriegeschichte. Das meinen nicht nur die Gewerkschafter, sondern auch Politiker.

Einige Politiker haben sich erst vor Kurzem in einer Duisburger Kirche mit 250 Mitarbeitern und Familienangehörigen zur Podiumsdiskussion getroffen. Mit dem Ziel, die TSTG zu retten.

NRW-Innenminister Ralf Jäger kam als Vertreter für Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (beide SPD). Zaubern könne er nicht, sagte er. Wirtschaftsminister Harry K. Voigtsberger (SPD) hatte bereits um ein persönliches Gespräch mit Vertretern des Mutterkonzerns Voestalpine gebeten. Ein konkreter Termin steht aber noch nicht fest, heißt es.

SPD, CDU, Linke und Grüne wollen alles tun, um dieses Werk zu halten. Dabei keimte auch die Idee auf, ob nicht vielleicht die Deutsche Bahn Interesse am Kauf der Schienenfabrik hätte.

Fast jede Woche gibt es Protestaktionen. Auch NRW-Arbeitsminister Guntram Schneider (SPD) will die Schließung verhindern, ThyssenKrupp-Mitarbeiter bekunden Solidarität, selbst Linken-Chef Gregor Gysi kam aus Berlin zum Unternehmensbesuch nach Duisburg und machte den Mitarbeitern Mut.

Doch hilft das alles? Voestalpine kann sich keine Verlegung der Produktion vorstellen. "Die Voestalpine will sich nach der Schließung des Werks in Duisburg aus der Herstellung und dem Vertrieb von Standard-Schienen-Produkten in Kerneuropa zurückziehen", sagt Unternehmenssprecher Peter Felsbach. Alle Alternativen seien geprüft worden. Keine hätte sich als sinnvoll oder machbar erwiesen. So lasse sich beispielsweise die Belegschaft nicht weiter reduzieren beziehungsweise der Auslastungssituation flexibel anpassen, weil eine gewisse Zahl von Mitarbeitern nötig ist, um den Schichtbetrieb aufrechtzuerhalten.

Dabei ist so eine Schließung teuer, hat Betriebsrat Heinz-Georg Mesaros ausgerechnet. Denn gerade erst seien die Verträge mit ThyssenKrupp Steel und Arcelor Mittal über Schienenvormaterial bis 2016 verlängert worden. Konventionalstrafen würden da fällig werden, sagt Mesaros. Jetzt hat der Betriebsrat einen eigenen Gutachter beauftragt, um die Unternehmenszahlen zu überprüfen.

Aber auch der Protest auf der Straße geht weiter. Am heutigen Sonntag beim Spiel des MSV Duisburg gegen Erzgebirge Aue wollten die TSTG-Mitarbeiter in Arbeitsmontur mit ihren markanten roten T-Shirts im Stadion auftauchen. 502 Karten hat der MSV kostenlos zur Verfügung gestellt. Und auch am 1. Mai wollen die Schienenbauer mit ihrem Protest auffallen. Doch wenn das alles scheitert, wird ein Hightechprodukt aus Deutschland verschwinden. Und dazu ein Unternehmen, das es seit knapp 120 Jahren gibt. Mit Schienen "Made in Deutschland" wäre es dann wohl vorbei.