Gründungserklärung des Sozialforums Nürnberg
Widerstand gegen Sozialabbau, Lohndumping und Sozialabbau – Eine andere Welt ist möglich und nötig
Das Märchen von den hohen Kosten Unternehmerverbände und die ihnen nahestehenden Politiker/-innen und „Wirtschaftsexperten“ behaupten, dass Deutschland über seine Verhältnisse lebt und sich den Sozialstaat nicht mehr leisten könne. Deshalb wurden mit der Gesundheits-, der Renten- und der Arbeitsmarktreform (Agenda 2010, Hartz-Gesetze) Gesetze verabschiedet, die über die Senkung der Lohnnebenkosten die Unternehmen entlasten sollen. Dies sei notwendig, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen, lautet die Argumentation. Und das soll erst der Anfang sein!
Doch wie sehen die Fakten aus?
- Das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab für den gesellschaftlichen Reichtum ist in den letzten fünfzehn Jahren im Durchschnitt pro Jahr um ca. 45 Milliarden Euro gewachsen.
- Deutschland wurde 2003 Exportweltmeister mit einem Außenhandelsüberschuss von ca. 130 Milliarden Euro.
- Durch die rot-grüne Steuerreform wurden den Unternehmen massive Steuergeschenke erbracht. So betrug der Steuerausfall bei den Gewinnsteuern für die Jahre 2001-2003 knapp 80 Mrd. Euro.
Die Kehrseite dieser sogenannten Reformen heißt Sozialabbau.
Hier nur einige Beispiele:
- In Nürnberg nimmt die Armut massiv zu. Ein Drittel aller Nürnberger ist entweder arm oder von Armut bedroht (NN 17.4.04).
- Trotz zunehmenden Zwangs, jede Arbeit annehmen zu müssen, kommen nach wie vor 27 Arbeitssuchende auf einen freien Arbeitsplatz.
- Anstatt die Arbeitszeit zu verkürzen und Arbeit gerecht zu verteilen, werden Wochen- und Lebensarbeitszeit verlängert.
- Die Leistungskataloge der Sozialversicherungen werden fortschreitend gekürzt. Die Vorsorge wird privatisiert und das Sozialversicherungssystem damit unterhöhlt.
- Durch die Gesundheitsreform werden gerade sozial schwache Menschen mit Praxisgebühr und Zuzahlungen unzumutbar belastet und von der Versorgung ausgegrenzt.
- Kommunales Eigentum wird veräußert und privatisiert (z. B. Sozialer Wohnungsbau, Grünflächen).
- Im Bildungsbereich drohen Wegfall der Lernmittelfreiheit, Einführung von Studiengebühren und weitere Einsparungen. Wenig privilegierte Menschen, Migrant/-innen und Jugendliche werden damit noch mehr benachteiligt, gleichzeitig sollen aber Eliteuniversitäten geschaffen werden.
Die Axt an den Sozialstaat legen
Eines der zentralen Argumente der neoliberalen Politik lautet: Die Kosten für die Wirtschaft sind zu hoch, egal ob Arbeitskosten, Sozialabgaben oder Steuern. Deshalb müssen diese gesenkt werden. Begründet wird dies wahlweise mit dem Versprechen, Unternehmen würden neue Arbeitsplätze schaffen, wenn die Kosten nur niedrig genug wären, oder aber mit der "Konkurrenz in der globalisierten Welt".
Sozialabbau schafft keine Arbeitsplätze!
Jedes Unternehmen ist bestrebt, die Kosten zu senken und die Gewinne zu maximieren. Deshalb wird die Forderung nach Senkung der Kosten nie aufhören, egal wie niedrig sie schon sind. Es ist eine Illusion zu glauben, höhere Gewinne aufgrund von Sozialabbau und niedrigen Arbeitskosten würden automatisch in Arbeitsplätze investiert. Unternehmen investieren dort, wo sie die höchsten Gewinnchancen haben: z. B. um weitere Arbeitsplätze wegzurationalisieren, neue Märkte zu erobern oder in lukrativen Geld- und Kapitalmärkten.
Wer sich – anstatt die gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu fordern – auf die Logik des Lohn- und Sozialdumpings einlässt, hat schon verloren: reicht man den kleinen Finger, wollen die Unternehmen die ganze Hand, also weitere Kürzungen der Löhne und Sozialleistungen.
Die Abwärtsspirale der „Konkurrenz auf dem Weltmarkt“
Dass niedrige Löhne im Umkehrschluss nicht Wohlstand bedeuten, zeigt uns auch die Geschichte der meisten Länder der sog. Dritten Welt. Seit mehr als dreißig Jahren wurden dort auf Druck der Konzerne und Industriestaaten die Löhne gekürzt und Sozialleistungen abgebaut. Die Folge war dort aber nicht wachsender Wohlstand für die Mehrheit der Bevölkerung, sondern die Schere zwischen arm und reich wurde noch weiter geöffnet. Die sog. Dritte Welt galt als Experimentierfeld. Was dort an Sozialabbau ausprobiert wurde, soll jetzt auch in den Industrieländern umgesetzt werden.
Die Geschichte zeigt dagegen: Zugeständnisse wurden nur durch Druck und Kämpfe erreicht! Ohne Gegenwehr sind Agenda 2010, Hartz-Gesetze, die Kürzungen der Renten und die Einschränkungen in der Gesundheitsversorgung erst der Anfang.
...und die Folgen?
Um die Haushalte von Bund und Länder zu entlasten, wurden immer größere finanzielle Lasten auf die Kommunen abgewälzt. Lohnabhängige, Rentner, Studenten und Arbeitslose werden zur Kasse gebeten: Rentensenkungen und Eintrittsgeld beim Arztbesuch sind nur die Spitze des Eisbergs. Studiengebühren, fehlende Ausbildungsplätze, Leiharbeitsplätze statt regulärer Arbeitsverhältnisse sind Ergebnis von Hartz und Agenda 2010. Der zunehmende Bildungsnotstand und die geplanten Eliteuniversitäten sind zwei Seiten einer Medaille. Gleichzeitig wird mit erheblichem finanziellen Aufwand die weitere Militarisierung der EU betrieben und eine Interventionsarmee aufgebaut.
Die neoliberale Politik zeigt auch in Nürnberg immer deutlicher ihr wahres Gesicht. Arbeitslosigkeit und Armut wachsen, bei Schulen, Sportanlagen, kulturellen Einrichtungen und bei sozialen Dienstleistungen wird gekürzt. Was an öffentlichem Eigentum lukrativ erscheint, wird privatisiert. Was alle im Bundestag vertretenen Fraktionen mit der Verabschiedung der Hartz-Gesetze und der Agenda 2010 vorgemacht haben, setzt sich im Nürnberger Rathaus fort: Während in den Bereichen Soziales, Bildung und Kultur eine Streichorgie die andere jagt, sind für zweifelhafte und teure Bauobjekte wie für das neue Stadion Millionen da.
Wir wollen dies nicht tatenlos hinnehmen! Es gibt Alternativen!
Die Kürzung der Sozialleistungen ist nicht die unausweichliche Folge der Globalisierung, wie von Politikern in Regierung und Opposition behauptet wird. Mit dem Argument der Alternativlosigkeit wird verdeckt, dass diese Globalisierung politisch gewollt ist. In allen Institutionen und Gremien, die in den letzten Jahrzehnten national und international die neoliberale Globalisierung vorangetrieben haben, sitzen Vertreter der jeweiligen nationalen Regierungen, die deren politischen Willen umsetzen. Auch die deutschen Vertreter in der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank, der WTO, dem IWF oder der Weltbank, wie auch auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene verfahren derzeit nach demselben Muster: Einzig die Kostensenkungen für Unternehmen als Heilmittel werden mit schon religiöser Inbrunst als Heilmittel propagiert. Wer widerspricht und auf Alternativen hinweist, ist des Teufels.
Dagegen stellen wir fest: Eine neoliberale Politik, die weltweit die Kluft zwischen arm und reich vergrößert, die Zerstörung der Natur beschleunigt und Kriege verursacht, darf keine Zukunft haben. Ein Wirtschaftssystem, das Millionen Menschen zu Erwerbslosigkeit und prekärer Beschäftigung, Andere zu Überstunden und längerer Lebensarbeitszeit zwingt, ist nicht akzeptabel.
Erschwingliche öffentliche Dienstleistungen, Nahverkehr, Bildung, Gesundheit, Wasser, Kultur sind Voraussetzungen eines zivilen Zusammenlebens und dürfen nicht den Profitinteressen einiger Weniger geopfert werden.
Unsere Stadt gehört den Menschen, die hier leben – egal welcher Herkunft oder Nationalität und unabhängig von ihrem rechtlichen Status. Wir wenden uns gegen eine St. Florians-Politik und setzen auf Solidarität statt Standortdenken, wenn angebliche lokale Interessen gegen andere Industrie-Standorte, Kommunen oder Länder ausgespielt werden sollen.
Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 lehnen wir ab, denn sie sind ein Programm für den sozialen Kahlschlag. Wir fordern deren Rücknahme und den Stopp des Sozial-, Bildungs- und Lohnabbaus!
Wir wollen eine demokratische Diskussion über die Verwendung öffentlicher Gelder.
Dazu haben wir – Nürnberger Initiativen, politische, soziale und gewerkschaftliche Gruppen und engagierte Einzelpersonen – uns zum Sozialforum Nürnberg zusammengeschlossen.
Der Schwerpunkt unserer Aktivitäten liegt in unserer Stadt.
Allerdings wissen wir: Eine dauerhafte Veränderung kann nur im internationalen Zusammenhang geschehen. Daher wollen wir unseren Widerstand vernetzen und beteiligen uns an entsprechenden bundes-, europa- und weltweiten Aktionen – gegen Krieg und Militarisierung, gegen Ausbeutung und Ausverkauf des gesellschaftlichen Reichtums! Dass dies möglich ist, zeigt die Geschichte des Widerstandes der letzten Jahre. Bei den europäischen Aktionstagen im April 2004 demonstrierten allein in Deutschland 500.000 Menschen gegen den Sozialabbau. Auch bei Protesten der Sozialverbände brachten Zehntausende ihren Unmut gegen diese Politik zum Ausdruck. An den Protesten in Seattle und Genua beteiligten sich Menschen aus der ganzen Welt.
Am 15. Februar 2003 demonstrierten 15 Millionen Menschen weltweit gegen die drohende Invasion im Irak. Auf internationaler Ebene haben sich Bauernorganisationen zusammengeschlossen, um erfolgreich Widerstand gegen die Agrarkonzerne zu leisten. Dies alles zeigt: Es gibt eine Alternative. Widerstand ist möglich. Wenn jemand den Gürtel enger schnallen soll, dann nicht die Armen und Lohnabhängigen, sondern die Konzerne und ihre Vorstandschefs. Im Sozialforum arbeiten wir alle gleichberechtigt zusammen. Bei gemeinsamen Aktionen und Entscheidungen legen wir Wert auf finanzielle Unabhängigkeit. Das Nürnberger Sozialforum versteht sich dabei als Teil der weltweiten Sozialforumsbewegung, beginnend mit dem Weltsozialforum 2001 in Porto Alegre (Brasilien) und dem Europäischen Sozialforum 2002 in Florenz.
Das Sozialforum
- ist ein Treffpunkt für Menschen, Gruppen und Bewegungen zum Austausch und zur Entwicklung von Ideen und Alternativen, zur Diskussion und für gemeinsame Tätigkeiten im emanzipatorischen Widerstand gegen neoliberale Politik und Bestimmung der Gesellschaft bzw. der Welt im Interesse des (trans-)nationalen Kapitals.
- nimmt Bezug auf lokale, regionale, nationale und globale Themen und Auseinandersetzungen: von den Auswirkungen der sog. Reformpolitik der Bundesregierung, über fortschreitenden Sozialabbau und Umverteilung von unten nach oben, bis hin zu den Kämpfen gegen den Raubbau an der Natur oder gegen imperialistische Kriegsaktionen.
- solidarisiert sich mit Menschen, die durch den Prozess der Globalisierung durch internationale Konzerne und kooperierende Regierungen und Weltorganisationen geschädigt bzw. geschwächt werden.
Beschlossen auf der Gründungsversammlung des Sozialforums Nürnberg, 26. Juni 2004
Ergänzung 1:
Unter „... und die Folgen“: „Der zunehmende Bildungsnotstand und die geplanten Eliteuniversitäten sind zwei Seiten einer Medaille. Gleichzeitig werden mit erheblichem finanziellem Aufwand die weitere Militarisierung der EU betrieben und eine Interventionsarmee aufgebaut.“
Jetzt Einschub: „Diese soll nach Vorbild der US-Regierung auf der ganzen Welt Kriege führen können, um die wirtschaftlichen Interessen nach außen auch militärisch abzusichern: Neoliberalismus und Militarisierung sind eng verbunden. Wir fordern: Abrüstung statt Sozialabbau!“
Angenommen im Plenum am 11. Okt. 2004
Ergänzung 2:
Das Sozialforum Nürnberg setzt sich dafür ein, dass die Menschen selbstbestimmt sowie frei von materieller Not bzw. der Bedrohung damit und frei von Diskriminierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung ihre Lebensform wählen und führen können. Diese Lebensformen können beispielsweise ein Leben als homo- oder heterosexuelles Paar mit oder ohne Kinder sein, in Familie, Patchworkfamilie oder als allein erziehende Mutter oder Vater sein, als Alleinlebende/r, in Wohn-, Haus- oder anderen Gemeinschaften.
Angenommen im Plenum am 11. Okt. 2004
Sozialforum Nürnberg - inhaltliche und strukturelle Eckpunkte
- Das Sozialforum richtet sich an diejenigen, die von der neoliberalen Globalisierung betroffen sind.
- Das Sozialforum Nbg. thematisiert die aktuellen Entwicklungen der neoliberalen Globalisierung mit ihren Auswirkungen im hiesigen Raum.
- Rassistische, sexistische, antisemitische, nationalistische und militaristische Positionen sind im Sozialforum Nbg. ausgeschlossen.
- Das Sozialforum Nbg. bietet die Möglichkeit der Vernetzung, Bündelungen, Koordination, der Kommunikation und der Diskussion von bestehenden und sich entwickelnden Themen, Aktionen, Bewegungen und Strukturen.
- Vom Sozialforum soll ein Prozess der Selbstorganisation ausgehen.
- Gleichberechtigt sind alle Akteure (Einzelpersonen und alle Organisationsformen) des Sozialforums, die in ihrer Praxis die Eckpunkte des Sozialforum Nbg. anerkennen.
- Versuche der inhaltlichen Dominanz (ultimativer Themen- und Meinungszwang von Organisationen wie Einzelpersonen) und Organisationsdominanz (Einsatz von Mitglieder- und Finanzstärke) sind im Sozialforum Nbg. zurückzuweisen.
- Das Sozialforum lebt von der Tätigkeit der einzelnen Akteure und von den verschiedensten Arbeitsgruppen. Die Arbeitsgruppen sind im Rahmen der inhaltlichen und strukturellen Eckpunkte autonom und gleichberechtigt.
- Die gemeinsame Aufgabe steht im Vordergrund. Kompromissbereitschaft, Anerkennung unterschiedlicher Meinungen und eine „Grundsolidarität“ (das gemeinsame Ziel) ist die Basis eines solidarischen Umgangs im Sozialforum Nürnberg.
- Das Sozialforum Nbg. ist Teil der weltweiten Sozialforumsbewegung, es fällt alle Entscheidungen auf lokaler Ebene autonom.
(Erarbeitet im Vorbereitungsplenum, Stand 21.06.04)