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Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

erstellt von jackpeter — zuletzt verändert: 25.08.2008 16:03
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Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 28.Mai 2006 23:10
Nach dem gescheiterten ver.di Streik habe ich überlegt, wann es in Deutschland das letzte mal einen erfolgreichen Streik einer großen Gewerkschaft gegeben hat: vor 20 oder 30 Jahren? Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei? Historisch gesehen könnte es den Industriegewerkschaften ergehen wie den Bauern. Bis vor 100 oder 150 Jahren arbeiteten ca. 80% der Bevölkerung in der Landwirtschaft um den Lebensmittelbedarf des Landes zu decken. Heute reichen dazu 2-3% und es gibt noch gewaltige Überproduktion. Dieselbe Entwicklung läuft in der Industrie ab (auch weltweit, s. Rifkin). Das bedeutet, dass die Industriegewerkschaften schon aus diesem Grund (neben eigenen Fehlern) Mietglieder verlieren und in der Zukunft (20-30 Jahren) noch gewaltiger schrumpfen werden. Muss diese Entwicklung zwangsläufig zu Schwächung der Position der (Rest)Mitglieder führen? Der gewaltige Einfluss der (Groß)Bauern-Lobby beweist, dass es nicht so kommen muss. Ähnliche Entwicklungen gibt es im Dienstleistungsbereich: kleine aber gut organisierte (und erfolgreiche) Gruppenvertretungen wie z.B. Beamte, Fluglotsen, Piloten beweisen es. Auch bei ver.die (einen Mix aus unterschiedlichen Gewerkschaften, wie ÖTV, GEW, DAG/AIN) gibt es zentrifugale Tendenzen (z.B. Marburger Bund). De facto gibt es auch keinen Flächentarifvertrag mehr, weder bei ver.di noch bei IGM. Was sind die Unterschiede zwischen z.B. ver.die und dem Marburger Bund (MB)? Der MB ist eine reine Interessensvertretung, keine politische Organisation (im Sinne des Wohls für die Gesellschaft oder einer Klasse). Es ist eine homogene Gruppe, man hat die gleichen beruflichen Probleme und Bedürfnisse. Wahrscheinlich dadurch gibt es einen sehr hohen Organisationsgrad (100.000 Mitglieder von 140.000 Klinikärzte) und große Gruppensolidarität. Bin gespannt wie deren Streik ausgeht. Vielleicht werden auch IT-ler und die Ingenieure wieder eine eigene Vertretung gründen, wie es früher der AIN war.

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 29.Mai 2006 23:08
Die Zeit der großen Einheitsgewerkschaftn ist im Kommen! Das ist meine These zu deiner These. Der erste wichtige Schritt war die Gründung von Ver.di. Er bedeutete auch eine wichtige Überwindung der Spaltung zwischen Angestellten und Arbeitern (DAG). Sie war in der Praxis längst da und wurde nur noch organisatorisch vollzogen. Das m.E. interessanteste Ergebnis dieses Zusammenschlusses war die unglaubliche Stärkung der Frauen. Sie haben in der Zeit bis und nach der Gründung von Ver.di sich richtig Gehör verschafft und Tatendrang bewiesen.Deshalb ist der Ver.di-Streik auch nicht einfach als "Niederlage" zu betrachten. Das erklärte Ziel der Gegenseite: Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich, konnten sie nicht durchsetzen. Allerdinges gebe ich Dir recht, was das Annagen der Flächentarife betrifft. Der letzte große gewerkschaftliche Streik war m.E. der um die 35-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich, Mitte der 80iger Jahre. Danach gabs durchaus eine ganze Reihe gewerkschaftlicher Streiks um Verschlechterungen abzuwehren (Angriffe auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und eben Angriffe auf den Flächentarifvertrag). der Kampf um die 35-Stunden-Woche war ein offensiver Kampf um die Verbesserung der Lage der Kollegen angesichts der sprunghaft gestiegenen Produktivität. Was wir jetzt beim Ver.di-Kampf erlebt haben, war der Versuch, der Arbeitgeberseite, die beginnende Offensive der Kolleginnen und Kollegen aufzuhalten und ihrerseits dagegenzuhalten mit Arbeitszeitverlängerung, späterer Rente und weitere Kürzungen bei den Arbeitsloen und der Jugend. Sie haben in diesem Kampf viele Kräfte geweckt und durchaus auch den Marburger Bund ermutigt, weiter für seine Forderungen einzutreten. In diesem Zusammenhang begrüße ich jede kämpferische Regung der Kolleginnen und Kollegen, sei es im Betrieb oder im Krankenhaus oder in der Schule. Die Einheit wird stets zuerst in der Praxis eingeübt - bevor das Hirn sie nachvollzieht. Sie besteht sehr wohl im Kampf um die eigenen Interessen - aber eben nicht auf Kosten von anderen Betroffenen, sondern gemeinsam. Kein Arzt wird seiner Arzthelferin vorwerfen, daß sie bei Ver.di ist. Keine Arzthelferin wird ihrem Chef vorwerfen, daß er weiterkämpft um seine Forderungen. Dazu haben sie zu lange gemeinsam gekämpft. Kurzum: die Einheitsgewerkschaften sind im Kommen! Gruß Friederike

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 30.Mai 2006 23:59
Hallo Friederike, wie immer ein kämpferisch-optimistischer Beitrag von Dir. Aber nüchtern betrachtet ist Deine Analyse der Situation um ver.di herum nicht zutreffend. Ich halte den Zusammenschluss zu ver.di für einen Fehlschlag. Ich erinnere mich noch ganz gut an die großen Widerstände beim Gründungskongress: es ist sehr knapp ausgegangen. Auch von dem gemeinsamen Kampf von ver.di-Mitgliedern und Marburger Bund habe ich nichts mitbekommen. Wie auch, wenn man sich die Aussagen auf der Home Page des MB anschaut (s. unten). Ich habe Beispiele angegeben (Bauern, Beamte), welche zeigen, dass man nicht unbedingt groß sein muss, um Erfolge zu haben. Es gibt viele verschiedene Taktiken einen Gegner zu begegnen: von Frontalangriff bis zu Partisanentaktik. Jede Taktik braucht eine adäquate Organisationsstruktur. Hier hätte ich gerne mehr Analysen, Infos und praktische Beispiele aus der ganzen Welt. Wer kennt aktuelle Quellen dazu? Die Marx’schen Analysen und Vorschläge kenne ich schon. Schöne Grüße [url href="http://www.marburger-bund.de/marburgerbund/index.php"]http://www.marburger-bund.de/marburgerbund/index.php[/url][em]Ärzte sollen die Bauernopfer des Verdi/TdL-Vertrages sein Das haben sich die Herren Möllring und Bsirske ja fein ausgedacht. Man vereinbart einen Tarifvertrag zu Lasten der Mediziner, der diesen dann ungefragt übergestülpt werden soll. Die Funktionäre haben aber leider die Rechnung ohne die streikenden Ärzte und den Marburger Bund gemacht.[/em] Die Ärzte, welche ich kenne, teilen diese Meinung.

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 31.Mai 2006 01:12
Deine Beispiele habe ich gut verstanden. Ja , es ist nicht entscheidend, wie groß man ist. Es ist aber auch nicht nur eine Frage der Taktik, ob man etwas verändert. Es ist vor allem eine Frage der Strategie. Und die muß stets auf die Erweiterung und Stärkung der Kräfte gerichtet sein. Das aber kann sie nur, wenn sie die vorhandenen Kräfte richtig erfaßt, einschätzt und zusammenschließt. Alle Kräfte sind widersprüchlich - sie tendieren zur Abgrenzung und zur Einheit. Man muß die richtige Abgrenzung und die Einheit stets aus dem Konkreten herausfinden, deshalb nützt hier eine offizielle homepage des Marburger Bundes nichts. Da muß man direkt ins Leben, in die Praxis gehen. Wie auch bei der Entstehung von Ver.di. Bei uns in Rostock war das ein wundervoller Prozeß des Zusammenschlusses von ganz verschiedenen Frauen, die sich nicht groß kannten, aber schnell einig waren in dem, was sie nicht mehr wollten. Das war vor allem Bevormundung, durch wen auch immer. Wir haben so gut wie jede Parole zum 8. März durch eigene ersetzt, weils uns nie entsprach, was da vorgegeben wurde. Ich hoffe, du verstehst, was ich meine. Das Leben kommt nun mal von unten - und die Antriebskräfte fürs Hirn eben auch. So ist das halt mit dem Materialismus. Gruß Friederike

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 1.Juni 2006 00:03
Hallo Friederike, die Größe um der Größe willen, war für mich nie ein (strategisches) Ziel. Es ist eine oft angewandte Taktik die Gruppengröße zu erhöhen, um (nicht nur gemeinsame) Ziele zu erreichen. Die Frage ist was hält eine Gruppe zusammen und wie groß darf sie maximal sein, um nicht zu zerfallen. (Diese Frage hat in meinen Augen viel mit Soziologie zu tun und wenig mit Materialismus). Aber um auf ver.di zurückzukommen, steht (meiner Meinung nach) ein Gesundschrumpfen dieser „Gruppe“ bevor. Was wiederum für die Teile nicht das Schlechteste sein muss. Schöne Grüße PS. Der IGM, mit einem überwiegenden Arbeiteranteil droht weniger ein Zerfall als ein Schrumpfen mangels Masse.

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 1.Juni 2006 00:39
"Die Frage ist was hält eine Gruppe zusammen und wie groß darf sie maximal sein, um nicht zu zerfallen." Hey Anonymus, was eine Gruppe zusammenhält, das bestimmt sich von ihren Zielen her. Sie zerfällt genau dann, wenn sie ihre Ziele der Quantität opfert. Sie stärkt sich genau dann, wenn es ihr gelingt, ihre Ziele zum Ziel vieler zu machen, das setzt voraus, daß ihre Ziele auch den Vielen entsprechen. Auf marxistisch heißt das "Massenlinie". Bei den Frauen nennt man das Mensch sein. Gruß Friederike

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 1.Juni 2006 21:58
[quote:Anonymous User format="text/plain"] was eine Gruppe zusammenhält, das bestimmt sich von ihren Zielen her. [/quote] Da gibt es auf jeden Fall genügend wichtige Gemeinsamkeiten bei den großen Gewerkschaften: - Erhalt von Arbeitsplätzen - Kein Lohndumping - Soziale Absicherung der Arbeitnehmer Das sollte als Basis für eine konstruktive Zusammenarbeit reichen! Daher sehe ich im Moment keine Gefahr, dass die großen Gewerkschaften zerfallen. Natürlich wird es immer interne Streitigkeiten geben, und die müssen auch ausgetragen werden. Es bringt nichts, wenn Meinungsverschiedenheiten unter den Teppich gekehrt werden. Dabei kann es auch einmal etwas heftig zugehen, aber es muss nicht gleich zu einer Spaltung der Gewerkschaft führen. Die IGM ist übrigens historisch gesehen eine Arbeitergewerkschaft, aber heute gibt es dort auch viele Angestellte. Das sehe ich als positive Entwicklung: Arbeiter und Angestellte werden sich immer mehr bewusst, dass sie im selben Boot sitzen und gemeinsam für ihre Ziele eintreten müssen. Nicht nur Fabrikarbeiter, auch hochqualifizierte Software-Spezialisten müssen fürchten, dass ihre Jobs ins Ausland verlagert werden. Dadurch entsteht eine Solidarität, die vor 20 Jahren kaum jemand für möglich gehalten hätte. Es kann also sehr wohl auch wieder aufwärts gehen mit den großen Gewerkschaften! Gruß, Heidi

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von Theorie am 1.Juni 2006 23:44
Hallo Friederike, Heidi und Anonymous User, eine Gewerkschaft ist vielleicht eine etwas besondere Art von Unternehmen, welches aber ebenfalls mehr oder weniger Gewinn erwirtschaften muss. Damit steht zumindest das höchste Ziel und die Gemeinsamkeit aller Gewerkschaften zweifelsfrei fest. An diesem Umstand allein ist noch nichts Verwerfliches; nur wenn durch hohe Renditevorgaben, das Streben nach Machtzuwachs usw. für die ursprünglichen aber nunmehr nachrangigen Ziele, also die Interessen der eigentlichen Kunden, nicht mehr viel übrig bleibt, dann wird’s spätestens Zeit zum Nachdenken. Um auf Unzulässigkeiten innerhalb der Organisation aufmerksam zu machen, besitzt die Basis aber nur sehr wenig Einflussmöglichkeiten, und diese wirken auch höchstens mit starker Verzögerung. Bleiben die Kunden aus Verärgerung weg bzw. gibt es eine genügend große Zahl an Austritten, dann stimmt irgendwann vermutlich die Bilanz nicht mehr, und es wird vielleicht sogar mit anderen Interessenvertretungen fusioniert. Andere sehen dann vielleicht eine Marktlücke und gründen etwas Neues, was zunächst erst einmal klein sein wird. Auch bei den Gewerkschaften gelten die Gesetze der Marktwirtschaft, somit lässt sich die ursprüngliche Frage nach der Zeit der großen Einheitsgewerkschaften auch nicht einfach beantworten. In beide Richtungen sind Veränderungen zu erwarten, nur dass sich diese künftig vermutlich schneller vollziehen werden. Was eine Gruppe zusammenhält, das bestimmt sich von den Zielen her. Da haben die beiden Schreiberinnen sicherlich recht, aber gerade der Stellenwert der von Heidi angeführten Gemeinsamkeiten rutscht mit zunehmender Hirarchieebene sehr schnell in den Keller. Die Gewerkschaften sind ebenso wie ein Unternehmen kein homogenes Gebilde. Eigentlich beantwortet auch die pure Existenz des NCI schon viele Fragen. Gruß TheoRie P.S.: Friederikes „Massenlinie“, die man (nur) bei den Frauen Mensch sein nennt, habe ich nicht verstanden und wäre für eine ergänzende Erläuterung dankbar.

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 2.Juni 2006 00:56
Lieber Theoretiker, zu Deinem P.S. du hast recht mit deiner Kritik, das war nicht sehr gut ausgeführt. Der Punkt ist, daß die Frauen das so nennen, weil sie die Angriffe umfassender, existenzieller erleben. Frauenbewegung und Arbeiterbewegung sind zwei verschiedene Bewegungen, die durchaus nicht immer einig sind. Es gab z.B. mal eine Situation, in der das Frauenwahlrecht in der Arbeiterbewegung heftig umstritten war. Es war dann Clara Zetkin, die klargestellt hat, was der proletarische Standpunkt zum Frauenwahlrecht ist. Das Scheitern der DDR hängt übrigens ebenfalls sehr stark mit der falschen Behandlung der Frauenfrage zusammen. Hier wurde sehr früh die marxistische Erkenntnis über die Rolle der Frau über Bord geworfen und dann eine Familienidylle propagiert, die der im Westen in nichts nachstand. Außer, daß die Frauen arbeiten konnten im sicheren Wissen, daß ihre Kinder versorgt sind. Das war ein gewaltiger Fortschritt zu früher. Es gibt also jede Menge Kommunisten, die zwar sozial eingestellt sind - aber die Tatsache, daß die Familienarbeit, d.h. das Aufziehen der Kinder, die Reproduktion der Arbeitskraft und der Arbeitskräfte privat, und vorwiegend als Sache der Frau verläuft, weder durchdenken, noch angreifen noch ändern wollen. Genau hier wirst du aber feststellen, wie Hartz zuschlägt und den Kampf herausfordert. Die Gewerkschaften mit Unternehmen gleichzusetzen haben schon viele versucht. Es scheiterte stets an den Mitgliedern. Sie müssen sich ihre Organisation zur Kampforganisation für ihre ökonomischen Interessen machen - auch wenns Widerstand gibt. Das sind die Mitglieder gewohnt und enorm lernfähig. Das stelle ich immer wieder fest. Gruß Friederike

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von Theorie am 2.Juni 2006 02:50
Liebe Friederike, vielen Dank für Deine schnelle und ausführliche Antwort. Da jedoch die Geschlechterproblematik nicht das Thema der eigentlichen Fragestellung ist, sollten wir einen diesbezüglichen Meinungs- oder Erfahrungsaustausch an geeigneterer Stelle weiterführen. Gleichsetzung von Gewerkschaften mit Unternehmen – das haben schon viele versucht. Der Vergleich gründet sich einfach auf meine persönlichen Erfahrungen, die ich in den vergangenen Jahren in meinem unmittelbaren Umfeld machen durfte und basiert nicht auf irgendwelchen Klischees oder Informationen von anderer Seite. Das vielfach stark von den ursprünglichen Grundzielen abweichende und häufig zunächst unverständliche Verhalten von Verantwortungsträgern, wird in vielen Fällen zumindest mit obigem Vergleich leicht erklärbar. Diese Erkenntnis, die ich keineswegs auf die Gewerkschaften beschränken möchte, ist mir leider viel zu spät gekommen. An der Basis hatte man zumindest scheinbar noch an einem Strang gezogen, aber nach der Postenvergabe war es damit vorbei. Die ursprünglichen Ziele sind immer noch die gleichen, und das wissen die aufgestiegenen ehemaligen Mitkämpfer sehr wohl und haben ganz bewusst den Kontakt zur Basis mehr oder weniger abgebrochen. Lernfähig bin ich auch weiterhin, aber vom Hinfallen tut mir vorerst noch die Nase weh. Außerdem dürfte es deutlich schwieriger und noch zeitaufwändiger werden, erneut Mitkämpfer für quasi uneigennützige Ziele zu gewinnen. Deshalb möchte ich mich zunächst auf einen Erfahrungsaustausch mit „entfernteren“ Mitmenschen beschränken. Gruß TheoRie

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 3.Juni 2006 00:30
Hallo Heidi und Friederike, hallo TheoRie, der Beitrag von TheoRie zeigt die ganze Komplexität einer Gruppendynamik: aus Individualzielen werden Gruppeninteresse aber es gibt Individuen, welche um ihre Ziele zu verfolgen von eine Gruppe zu der nächsten wechseln (das Beispiel von TheoRie über den Wechsel zu der Funktionärsgruppe). Ich glaube nicht, dass man dieses Verhalten vernachlässigen kann. Die Soziobiologie geht davon aus, dass man die gesamte Evolution und sogar das soziale Verhalten der Menschen aus dem Egoismus der Gene erklären kann. Aber für die weitere Diskussion möchte ich der Einfachheit halber auf der Ebene der Gruppeninteressen bleiben. Heidi hat in ihren Plädoyer für Einheitsgewerkschaften ein paar gemeinsame Ziele erwähnt. Eins davon ist der Erhalt der Arbeitsplätze. Gerade das ist aber kein gemeinsames Ziel von z.B. ver.di und Marburger Bund, wie ich in meinen ersten Beitrag ausgeführt habe. Die Krankenschwestern kämpfen tatsächlich um ihre Arbeitsplätze: sie werden durch billige Arbeitskräfte aus Osteuropa ersetzt und haben kaum Ausweichmöglichkeiten. Die Ärzte haben keine Angst um ihre Arbeitsplätze: das Angebot aus Osteuropa ist überschaubar und es gibt durchaus Bedarf in Skandinavien oder England/Irland (zu sehr guten finanzielle Bedingungen). Deswegen mussten sich die Krankenschwestern mit weniger als 1/10 der Forderungen des MB zufrieden geben (und der MB Streik geht weiter). Eine ähnliche Situation gibt es im Metallbereich (IGM). Die Produktion (Arbeiter) ist viel stärker von Rationalisierung und Offshoring bedroht als die Entwicklung (Ingenieure). Bei den Meldungen über die Ergebnisse der BR-Wahlen (auf der Siemens-Dialog HP der IGM) ist mir folgendes aufgefallen. Bei den stark produktionsorientierte Betrieben (z.B. PG Essen) ist die IGM mit geschlossenen Liste angetreten und hat bei hoher Wahlbeteiligung satte Mehrheiten bekommen. An den Entwicklungsstandorten (hoher Angestellten- und Ingenieuranteil, z.B. Infenion) hat sie meistens offene Listen gehabt und nur ca. 50% bekommen (mit befreundeten Listen und bei einer Wahlbeteiligung von nur etwas über 50%). Das würde mein Empfinden bestätigen, dass es keine starken gemeinsamen Interessen zwischen den Arbeitern und den Angestellten bzw. Ingenieuren in der Metallbranche gibt. Hier wäre allerdings eine professionelle (und objektive) Wahlanalyse vom Vorteil (auch für die IGM, wenn sie daran interessiert wäre). Schöne Grüße PS. Ich bin aus der IGM ausgetreten aufgrund der Erfahrungen wie der NCI behandelt wurde (und nach wie vor wird).

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 3.Juni 2006 00:57
Lieber Nachtschmetterling, (kannst auch nicht schlafen?) Deinen Hinweis, daß man das mit dem "Gruppenwechsel zur Funktionärsriege" nicht vernachlässigen kann, halte ich für außerordentlich wichtig. Das ist eine der bittersten Erfahrungen, insbesondere der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert, gewesen. Und sie ist noch nicht vollständig verarbeitet. Natürlich sind die Produktionsstandorte stärker und schon länger betroffen als die Entwicklungsstandorte. Worauf Heidi hinweist, ist die Entwicklung inzwischen. Sie schreibt, daß man sich diese Solidarisierung vor 20 Jahren so noch garnicht vorstellen konnte. D.h. die Entwicklungstendenz, die sich ja auch bei euch zeigte, daß Ingenieure plötzlich zuhauf in die IGM gehen, ist entscheidend. Interessant auch die 10 Listen bei SAP zur Betriebsratswahl, nachdem vor ein paar Wochen noch verkündet wurde, die Belegschaft habe sich mehrheitlich dagegen ausgesprochen, überhaupt einen Betriebsrat zu wollen. Was jetzt notwendig ist, ist ein Prozeß, bei dem sowohl die Ingenieure als auch die Arbeiter lernen müssen, wie sie sich gegenseitig am besten unterstützen können bzw. wer was von wem lernen kann. Unter anderem ist das ein Prozeß, der durchaus auch von NCI mitorganisiert wird. Dabei kommmen sowohl alte Vorurteile als auch Vorstellungen, die heute so nicht mehr stimmen, auf den Prüfstand. Natürlich kann ich Eure Austritte gefühlsmäßig völlig nachvollziehen und finde es auch gut, wenn man beschließt, die Auseinandersetzung erstmal "aus mehr Entfernung" zu führen, wie TheoRie schreibt. Man muß schließlich immer sagen können, daß man das, was man tut, vor sich und den anderen wirklich vertreten kann. Sonst landet man bei der Argumentation der Politiker oder irgendwelcher Funktionäre, denen ihr Posten oder Funktion stets wichtiger ist als die Interessen der Menschen, die Wahrheit oder gar das Gewissen. Gruß Friederike

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 3.Juni 2006 16:26
Hallo Friederike, „...daß Ingenieure plötzlich zuhauf in die IGM gehen...“, wird durch die Statistik nicht bestätigt. ZB. für IGM Bayern: -----------------2000 ---- 2001 ---- 2002 ------- 2003 Mitglieder 392.120 -- 390.590 -- 385.415 -- 370.520 Angestellte 45.734 --- 45.884 --- 46.838 --- 44.439 Dabei sind die Ingenieure nur ein Teil der Angestellten. Noch schlechter sieht die Langzeitentwicklung in den „high tech“ Standort München aus: ---------------------1970 ---- 1980 ---- 1990 ---- 2000 -----2003 Mitgl.München 57.204 -- 65.420 -- 57.379 -- 41.855 -- 39.632 Diese Entwicklung wundert mich auch nicht, wenn man sich vergegenwärtigt wie die Ingenieure und andere Mitglieder, welche sich nicht führen lassen wollen, durch die Funktionärsgruppen ausgegrenzt werden. Alleine in diesem Forum sind die Fälle von NCI http://www.netzwerkit.de/projekte/siemens/foren/Gewerkschaft/661843553078 , MAN-Saltzgitter http://www.netzwerkit.de/projekte/man-nci/chronik/simpleblog_view und AEG http://www.netzwerkit.de/projekte/aeg/foren/offen/712551243641 gut dokumentiert. Ähnliche Fälle hat es bei DaimlerCrysler in Untertürkheim (Basis eV.) und in der IG Metall Verwaltungsstelle Duisburg gegeben http://www.netzwerkit.de/projekte/siemens/foren/Gewerkschaft/253324217232 ; das dort angegebene Forum ist inzwischen abgeschaltet ;)). Und ich glaube die Zahl der Dunkelfälle ist viel größer. Du hast geschrieben: „Was jetzt notwendig ist, ist ein Prozeß, bei dem sowohl die Ingenieure als auch die Arbeiter lernen müssen, wie sie sich gegenseitig am besten unterstützen können bzw. wer was von wem lernen kann.“ Voneinander Lernen und sich gegenseitig helfen ist immer gut. Aber es muss nicht unbedingt in einer Einheitsgewerkschaft passieren (schon gar nicht in so einer pathologischen wie die IGM). Nein, hier sind andere Formen der Interessensvertretung gefragt, wie ich schon früher in diesem Forum geschrieben habe: „Hier hätte ich gerne mehr Analysen, Infos und praktische Beispiele aus der ganzen Welt. Wer kennt aktuelle Quellen dazu?“ Schöne Grüße

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von Theorie am 3.Juni 2006 17:17
Hallo DiskussionsteilnehmerInnen, besonders Eure letzten Beiträge enthalten in konzentrierter Form viel Grundlegendes und Aktuelles bezüglich dem, was mich persönlich zur Zeit besonders beschäftigt. Den stark anwachsenden Einfluss von Individualzielen auf die Gruppendynamik hatte ich vor kurzem unterschätzt und bin auch prompt über die von manchen Gleichgesinnten vorgetäuschte Vertretung von Arbeitnehmerinteressen gestolpert. In der gegenwärtigen Zeit der negativen Personalanpassungen und der sehr schlechten Arbeitsmarktlage für ältere Arbeitnehmer, ungeachtet oder gerade wegen ihrer hohen Berufs- und Lebenserfahrung, ist es im Normalfall das oberste Ziel für den Einzelnen: I) Erhalt des EIGENEN Arbeitsplatzes – egal wie. Die Bandbreite der gewählten Mittel ist äußerst vielfältig und wenn es der persönlichen Zielsetzung dienlich sein könnte, dann steht auch dem Eintritt in eine Gewerkschaft oder der Kandidatur zum Betriebsrat nichts mehr im Wege. Gibt es einen ausreichend hohen Anteil an unzufriedenen und nicht organisierten Mitarbeitern im eigenen Betrieb, so kann auch die Gründung einer eigenen Kandidatenliste vorteilhaft sein, mit der man bei ausreichend hohem Listenplatz schnell und risikoarm zum ersten Zwischenziel gelangt. Damit das Erhaltene oder Erreichte nicht unnötig gefährdet wird, bedeutet dies: II) Keine Fehler machen, die einem selbst schaden könnten. Dazu gehört zum Beispiel, dass man bei kritischen Beiträgen in Diskussionsforen stets als Anonymous User unerkannt bleiben sollte, was leider für die direkte Kommunikation hinderlich ist. Die Ziele I) und II) werden mit deutlich zunehmender Konsequenz und Rücksichtslosigkeit von allen Individuen und selbstverständlich auch Gruppen verfolgt und sind somit primär unabhängig vom Beruf, dem Unternehmen und der Hierarchieebene. Ist damit die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei ? Aufgrund des noch weiterhin zunehmenden Egoismus sowie aktueller Beispiele für Separationen könnte man vielleicht die obige Frage voreilig bejahen, aber das wäre nun doch zu oberflächlich betrachtet. Zunächst habe ich noch eine wesentliche Frage : Was versteht ihr eigentlich unter einer großen Einheitsgewerkschaft ? Groß hinsichtlich absoluter Mitgliederzahlen oder bezogen auf den prozentualen Organisationsgrad (siehe Marburger Bund im ersten Beitrag). Einheit bezüglich der Vereinigung vieler Berufsgruppen in einem Verband ? Eine große Gewerkschaft wird natürlich immer interessant bleiben, denn bei Themen wie Macht, Öffentlichkeit und Karrieremöglichkeiten sowie Vergünstigungen für ihre Mitgklieder hat sie gegenüber kleineren Interessenvertretungen eindeutig die besseren Karten. Unsere großen politischen Parteien zeigen uns doch täglich, durch welch vielfältige Möglichkeiten man überleben kann. Sogar Gesetzesverstöße lassen sich noch zum Vorteil verwenden. Einheitsgewerkschaft – ich glaube, dafür geht es uns einfach noch viel zu prächtig. Der letzte Beitrag von Anonymous User trifft diesen Punkt insgesamt ganz gut. Professionelle und objektive Wahlanalyse – lieber Anonymous User Du hast vielleicht Vorstellungen ! Bei einer richtigen Analyse müsste unweigerlich zu Tage treten, dass sowohl die Wähler als auch die Mitglieder erneut nahezu ausnahmslos mehr oder weniger über den Tisch gezogen worden sind. Man ist doch heilfroh, wenn’s nicht alle gemerkt oder zumindest in vier Jahren vergessen haben. Die Gewählten sind jetzt besonders mit Ziel II) beschäftigt und die Verlierer kümmern sich vornehmlich um Ziel I) und das Lecken ihrer Wunden. Reinigungskräfte, Küchen- und Kantinenpersonal, Sicherheitskräfte, IT-Mitarbeiter, … Krankenschwestern, … sind alles schwache Bauernopfer aus den sogenannten indirekten Bereichen. Die Arbeiter in der Produktion werden ebenfalls als reine Kostenfaktoren betrachtet und deren Arbeitsplätze werden in Folge zunehmend ausgelagert oder gar gestrichen. Solange eine hohe Wahlbeteiligung und Mehrheiten weiterhin als „Wir haben doch alles richtig gemacht.“ von den Gewählten dargestellt wird, sollte man nicht mit einer Verbesserung hinsichtlich der Interessenvertretungen rechnen, welche nicht gerade unglücklich darüber sind, dass gekündigte Mitarbeiter nach dem Ausscheiden aus dem Betrieb kein Wahlrecht mehr besitzen. Natürlich gibt es starke gemeinsame Interessen zwischen den Arbeitern und Angestellten bzw. Ingenieuren (bin selber einer), und die Zusammenarbeit macht Spaß und klappt wunderbar. Aber die Aufrechteraltung von gegenseitigen Vorurteilen und Misstrauen wird nicht nur von den Arbeitgebern weiterhin kräftig gefördert. Denn, sollte man sich an der Basis endlich gegen den Widerstand anderer zusammenraufen, dann hätten viele den Blick frei für das Wesentliche und es könnten im Anschluss mehrere Organisationen unter Mitgliederschwund leiden. Der NCI ist für alle da und hat sich damit nicht an die ungeschriebenen Spielregeln gehalten. Zumindest offiziell darf keine Organisation wie IGM, AUB, etc. den NCI begrüßen oder gar unterstützen, denn man würde damit gleichzeitig eigene Versäumnisse und Fehler eingestehen. Eine für mich nahe liegende Frage zum Thema Einheitsgewerkschaften : Was müsste Eurer Meinung nach in Zukunft passieren, damit bei den nächsten Betriebsratswahlen der NCI nicht mehr mit einer eigenen Liste antritt ? Grüße und vorab schöne und erholsame Feiertage TheoRie P.S.: Den letzten Beitrag von Anonymous User konnte ich nicht mehr berücksichtigen; werde also später darauf antworten.

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 3.Juni 2006 19:17
[quote:TheoRie format="text/plain"]Zumindest offiziell darf keine Organisation wie IGM, AUB, etc. den NCI begrüßen oder gar unterstützen, denn man würde damit gleichzeitig eigene Versäumnisse und Fehler eingestehen. [/quote] Moment mal, genau das ist doch die allerwichtigste Voraussetzung für Verbesserungen: Das Eingestehen der eigenen Versäumnisse und Fehler! Das ist sicher nicht angenehm, aber es muss sein. Solange sich die Funktionäre nur gegenseitig auf die Schultern klopfen und zufrieden nicken, wird es keinen echten Fortschritt geben. Es ist tatsächlich ein Problem, dass in so einer Massenorganisation wie der IGM ein Einzelner sich leicht etwas verloren fühlen kann. An der Basis entsteht oft der Eindruck: "Ach, die da oben machen doch eh, was sie wollen! Meine Meinung und meine speziellen Probleme interessieren die doch gar nicht." Die Mitglieder fühlen sich nicht richtig ernst genommen. Dagegen muss die IGM natürlich etwas unternehmen! Die Basis darf nicht ignoriert werden, denn sie trägt die Gewerkschaft! Andererseits ist auch klar, dass eine so große Gewerkschaft nicht auf die speziellen Wünsche eines jeden einzelnen eingehen kann. Für Verhandlungen mit den Arbeitgebern brauchen die Funktionäre eine klare Linie, sonst werden sie als Verhandlungspartner nicht ernst genommen, was wiederum allen Mitgliedern nur schaden kann. Das ist ein Konflikt, dem man nicht aus dem Weg gehen kann. Ohne Kompromisse geht es nicht, und irgendjemand wird immer schimpfen. Aber als Verhandlungspartner der Arbeitnehmer ist auf jeden Fall eine starke Gewerkschaft mit vielen Mitgliedern in einer besseren Position als eine kleine mit nur sehr wenigen Mitgliedern. Eine Streikdrohung wirkt nur, wenn auch genügend organisierte Arbeitnehmer da sind, die sich am Streik beteiligen! Fazit: Der Gegensatz zwischen den Interessen Einzelner und den gemeinsamen Zielen wird immer ein Problem sein, insbesondere in einer Gesellschaft, die immer mehr von Egoismus und Rücksichtslosigkeit beherrscht wird. Jeder will natürlich zuerst sein Schäfchen ins Trockene bringen, klar. Jetzt kommt es auf die IGM-Führung an, wie sie mit dieser Herausforderung umgeht. Ein Netzwerk wie NCI kann man nicht einfach ignorieren oder als Spinnerei abtun. Es wäre besser, von den NCI'lern zu lernen und ihre Erkenntnisse in die Gewerkschaftsarbeit einzubringen. Gruß, Heidi

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von Theorie am 3.Juni 2006 21:50
… es sind andere Formen der Interessenvertretung gefragt. Ist trotz der bestehenden Angebotsvielfalt etwa nichts Passendes dabei ? Oder stört es vielleicht jemanden, dass die vorhandenen Gruppierungen viel Energie und Zeit darauf verschwenden sich gegenseitig zu bekämpfen und Mitglieder abzuwerben ? Eine Einheitsgewerkschaft oder –partei hält zwar die externen Streitigkeiten in sehr engen Grenzen, aber macht deren Mitglieder nicht unbedingt zufrieden und glücklich. Also dann lieber etwas vollkommen Neues probieren, wobei spätestens bei der ersten, sogenannten konstituierenden, Betriebsratssitzung oder einer anderen Gelegenheit zur Pöstchenvergabe die anfängliche Euphorie schnell verschwindet – zumindest wenn man keine Mehrheit im Gremium besitzt oder durch Zusammenarbeit erreichen kann. Ja, die Ingenieure bilden nur einen Teil der Angestellten, welcher aber äußerst anspruchsvoll ist. Wenn einem immer wieder gesagt wird, als Ingenieur sei man schließlich für das (selbständige) Lösen von Problemen eingestellt worden, dann entwickelt man sich zwangsläufig nicht nur im fachlichen Bereich früher oder später zum Einzelkämpfer. Die Ingenieure sind auch ganz eifrig dabei, unternehmerisches Denken und Handeln zu verinnerlichen, sehr zur Freude des Arbeitgebers. Mit dem selbständigen Kündigen bei mangelnder Auslastung oder bei zu hohen Personalkosten klappt es zwar noch nicht immer reibungslos, aber das wird schon werden, denn schließlich gibt es weiterhin Mitarbeiter, die auf Privilegien wie einen außertariflichen Arbeitsvertrag und Vertrauensarbeitszeit mächtig stolz sind. Wo hat sich gezeigt, dass Ingenieure plötzlich zuhauf in die IGM gehen ? Es täte mich wirklich interessieren., denn so richtig vorstellen kann ich es mir nicht. Die Statistik von Anonymous User ist für mich hingegen nicht aussagekräftig bezüglich einer Zu- oder Abwanderung von speziell Ingenieuren, welche sich nämlich in meinem Umfeld zunehmend mit dem Thema „Gewerkschaft“ überhaupt das erste Mal beschäftigen. Einen Beitritt kann man da nicht gleich erwarten, dafür ist der Leidensdruck einfach noch nicht groß genug. Die Formulierung „…Mitglieder, welche sich nicht führen lassen wollen ...“ ist etwas vieldeutig formuliert. Wenn ich mich nicht unterordnen kann, dann sollte ich weder Mitglied bei einer Vereinigung noch abhängig Beschäftigter werden. Wahrscheinlich meinst Du damit das störrische Verhalten mit dem sie oftmals reagieren, wenn ihnen etwas gegen den Strich geht. Ja dann werden sie von den Funktionären der Interessenverbände genauso wie von den Führungskräften in den Unternehmen fein säuberlich getrennt voneinander ausgegrenzt. Das klappt besonders bei den Angestellten immer wieder hervorragend. Wenn diese dann vor lauter innerem Ärger noch einen schwerwiegenden Fehler begehen, dann ist es ein Leichtes, sie endgültig loszuwerden. Manchmal schießen sich die Ausgegrenzten vor lauter Wut und Verzweiflung über ihre Hilflosigkeit sogar gegenseitig ab. Zwischenzeitlich hat sich Heidi gemeldet und beim erstmaligen flüchtigen Lesen ihres Beitrags steht da: Mit der IGM hätte man bereits einen starken Verhandlungspartner, der etwas mehr auf die Basis eingehen müsste. Zweifellos besitzt die IGM eine Stärke, um die sie die kleinen Gruppierungen beneiden. Aber die Kraft nimmt deutlich ab und es wird scheinbar nichts dagegen unternommen. Auch hier ist der Leidensdruck in den oberen Rängen noch viel zu gering. Zeigt mir den Scheck oder den Dauerauftrag der IGM zur finanziellen Unterstützung des kleinen NCI-Servers – dann können wir über das Aufwachen einer großen, mächtigen Gewerkschaft und über ehrlich gemeinte Gesprächsbereitschaft gegenüber der Basis weiter reden. Solange ganze Berufs- und Interessengruppen auch weiterhin von der IGM nahezu keine Unterstützung finden, scheint sie noch nicht aufgewacht zu sein beziehungsweise bereit zu sein, aus Fehlern zu lernen. Ich rede hier von bisweilen sehr großen Gruppen, nicht von einzelnen Mitgliedern! Ja sogar ganze Betriebe scheinen für die IGM uninteressant geworden zu sein. Die Grundziele sind die gleichen, zwischenzeitlich kommen sie aber von unterschiedlichen Berufsgruppen mit ihren speziellen Eigenheiten. Darin scheinen viele der Verständigungsschwierigkeiten begründet sein. Die Funktionäre habe ihre eigene klare Linie; auf unsere Ratschläge und Meinungen sind die nicht angewiesen. Gruß Theorie

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 3.Juni 2006 23:09
Lieber Theorie, ja, das selbständige Herangehen bei der Lösung von Problemen ist ein wichtiges Merkmal von euch - und, wie ich denke, ein gewaltige Stärke, wenn sie im Interesse von allen eingesetzt wird. Da ich schon etwas älter bin, betrachte ich die Entwicklung nicht erst seit 2001. Ich verfolge sie seit den 70er Jahren und sehe durchaus eine Entwicklung. Die Statistik dazu wäre für mich auch ziemlich interessant. Ingenieure, die bei der IGM waren, waren früher eine Seltenheit und sie wurden ganz bestimmt nicht so behandelt wie NCI. Sie konnten allerdings auch nicht so handeln wie NCI: konsequent, öffentlich und die Auseinandersetzung suchend. Das ist einfach eine neue Erscheinung und damit eine neue Herausforderung. Ich hoffe daß der NCI-Server niemals akzeptieren wird, daß er per Scheck von irgendjemandem abhängig und damit zensierbar gemacht wird. Ebenso bin ich sehr dafür, daß NCI durchaus weiterhin eigenständig bei BR-Wahlen antritt. Man kann Bündnisse schließen, wenn sie zweckmäßig sind aber niemals darf man sein Denken und Handeln irgendeiner Geldquelle unterordnen. Es muß umgekehrt sein: weil die Ziele, das Denken und Handeln in Ordnung sind, deshalb muß es finanziell gefördert werden. Gruß Friederike

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von Theorie am 4.Juni 2006 01:29
Liebe Friederike, „ …niemals darf man sein Denken und Handeln einer Geldquelle unterordnen.“ es wäre schön, wenn man sich diese Freiheit immer leisten könnte. Wie sieht es mit einzelnen Mitgliedern von Gewerkschaften oder von anderen Organisationen aus – dürften die etwas für den NCI-Server spenden und wie ließe sich der Grad der Abhängigkeit dann noch messen? Solange nur wenige und zudem schwer erziehbare Menschen ihre Meinung im Netzwerk kundtun, wird man den Server bestimmt nicht kontrollieren wollen, denn eine wichtige und sehr preiswerte Quelle für ungefilterte Informationen von der Basis ginge verloren. Warum soll der NCI bei den BR-Wahlen weiterhin eigenständig antreten? Damit er vielleicht als Kontrollinstanz für die großen Interessenvertretungen arbeitet? Das erfordert aber verdammt viel Energie von den aktiven Mitgliedern des NCI und ist ein sehr undankbarer Weg. Mühsam baut man etwas auf, was dann im Rahmen einer Abstimmung durch die anderen Vertreter wieder kaputt gemacht wird. Natürlich ist dieser Vorgang völlig demokratisch, denn schließlich vertritt die Summe der Gegenstimmen ja die Mehrheit. Außerdem ist zur Freude der Arbeitgeber ein aus mehreren Gruppen bestehender Betriebsrat zu einem großen Teil mit sich selbst beschäftigt. Bezogen auf die Ebene des Betriebsrats: Was unterscheidet hier dann den NCI noch vom Ingenieur als Einzelkämpfer? Nun räumst Du zwar das Schließen von Bündnissen ein; für deren Zustandekommen sind aber in der Regel Vertrauen und Kompromissbereitschaft notwendig, und bevor man sich versieht, ist man zumindest nicht mehr völlig unabhängig. Als nahezu Unabhängiger hat man zwar einen deutlich größeren Entscheidungsspielraum, aber ohne eine Mehrheit erreicht man für die Kolleginnen und Kollegen nun einmal nicht sehr viel. Mein Autorenname ist von mir willkürlich gewählt worden und sollte nicht allzu wörtlich genommen werden. Vor vier Jahren war ich Initiator einer Listenwahl und bei der diesjährigen Betriebsratswahl - aufgrund der zwischenzeitlich gewonnenen Erfahrungen - maßgeblich an dem erneuten Zustandekommen einer Personenwahl beteiligt. Sowohl die Separation als auch die Fusion haben jedenfalls für mächtig viel Schwung gesorgt. Meine Nase tut halt noch etwas weh, aber ich habe viel dabei gelernt. Gruß TheoRie

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 4.Juni 2006 22:24
Lieber TheoRie, das ist wirklich eine Kunst, zu entscheiden, wann man zusammengeht und wo man nicht mitmacht bzw. selbständig handelt. Beides gehört unbedingt zusammen. Weder kann man als Einzelkämpfer einen Stich machen, noch darf man, wie gesagt, sein Denken und Handeln irgendwelchen anderen Leuten überlassen. Dazu kommt, daß die Dinge sich ständig weiterentwickeln, so daß das, was heute richtig ist, morgen falsch sein kann (im taktischen Bereich - nicht im strategischen) und man bekommt ständig Prügel fürs selbständige Denken, da gebe ich Dir recht. Aber man kanns auch nicht lassen - und - ich gebe zu, es ist doch eine Quelle ständigen Vergnügens. Gruß Friederike

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 4.Juni 2006 22:44
Nachtrag: Die Entwicklung der Einzeller zu höheren Formen hing übrigens maßgeblich von der semipermeablen Membran ab. Von der Fähigkeit einer eigenständigen Entwicklung des Zellkerns und der Fähigkeit zum Austausch mit der Umgebung also mit dem Wasser. Entscheidend bei allen Entwicklungen sind aber stets die inneren Bedingungen. Gruß Friederike

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von Theorie am 5.Juni 2006 03:16
Liebe Friederike, mit Deinen letzten Beiträgen hast Du uns wieder auf das eigentliche Forumsthema zur Zukunft der großen Einheitsgewerkschaften zurückgeführt. Die neuen Arbeitsformen erfordern von den Arbeitnehmern zunehmend selbständiges unternehmerisches Denken und Handeln. Ob die Isolation und die Scheinselbständigkeit quasi als Ausgleich zu einem verstärkten Zulauf bei den Gewerkschaften führen, erscheint mir da sehr zweifelhaft. Die Option, als stummer Beitragszahler eventuell auch einmal streiken zu dürfen, hat doch deutlich an Attraktivität verloren. Diese Ausführung ist zugegeben sehr oberflächlich und provoziert damit vermutlich Protest. Ich will es deshalb anders formulieren: Welche Vorteile hat ein Arbeitnehmer, der schon über paar Jahre im Berufsleben steht und nicht nur passives Mitglied sein möchte, von der Mitgliedschaft in einer der großen Einheitsgewerkschaften? Es sollte dabei von einem möglichst durchschnittlichen Betrieb ausgegangen werden, also mit etwa 500 Beschäftigten, einem Betriebsrat mit mehrheitlich gewerkschaftlich organisierten Mitgliedern, und einer bevorstehenden negativen Personalanpassung. Wenn die Beantwortung zu einfach sein sollte, kann der Arbeitnehmer durch eine Arbeitnehmerin, vielleicht sogar in Teilzeitbeschäftigung, ersetzt werden. Ein Zerfall der Gewerkschaften ist nicht zu erwarten. Wer nicht zufrieden oder zu ungeduldig ist, kann ja austreten. Halten tut ihn bestimmt keiner, das verbietet schon allein der Stolz. Also werden die großen Interessenvertretungen vermutlich zunächst weiter schrumpfen und spätestens beim Erreichen einer als kritisch erachteten Größe nach Fusionsmöglichkeiten suchen (müssen). Dann haben wir die großen Einheitsgewerkschaften, denen Du und Heidi eine durchaus positive Zukunft einräumen. Und wenn sie dann noch weiter geschrumpft sind, werden sie über die Grenzen hinweg Verbindungen eingehen und vielleicht zu einem „Global Player“ aufsteigen. Anmerkung: Die Prügel fürs selbständige Denken kann ich zumindest in meiner jetzigen Entwicklungsphase noch nicht als Quelle des ständigen Vergnügens betrachten. Vielleicht liegt dieses daran, dass ich nicht ausschließlich eigenverantwortlich handel und somit nicht immer nur alleine Dresche bekomme. Zum Einzeller möchte ich aber nicht wieder degenerieren und werde deshalb auch das selbständige Denken nicht mehr lassen. Gruß TheoRie

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 5.Juni 2006 08:16
Kurz zur Anmerkung: hier hast du mich falsch verstanden. Das selber Denken ist die Quelle, nicht die Prügel. Gruß Friederike

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von Theorie am 5.Juni 2006 13:09
Liebe Friederike, jetzt bin ich aber erleichtert, Dich falsch verstanden zu haben. Da ist mir in den Morgenstunden ein wirklich grober Lesefehler unterlaufen, für den ich mich entschuldigen möchte. Ergänzend möchte ich noch den Grund zur provokanten Frage bezüglich der Vorteile einer Gewerkschaftszugehörigkeit etwas ergänzen. Dem durchschnittlich interessierten Mitarbeiter, also mit nicht allzu großem Hintergrundwissen bezüglich Solidarisierung, sollten in einer möglichst kurzen Ausführung die für sein direktes Arbeitsumfeld erkennbaren Vorzüge aufgrund einer Mitgliedschaft dargestellt werden können. Erfahrungsgemäß steht die Sicherung des EIGENEN Arbeitsplatzes oder gar des Betriebsstandorts ganz weit oben auf seiner Wunschliste und besitzt wesentlich mehr Anziehungskraft als eine gerechte Entlohnung oder der Erhalt menschenwürdiger Arbeitsbedingungen. Der potenzielle Neuzugang sollte nur die allgemeinen Informationen aus den Medien etwas kennen, aber nicht unbedingt einen tieferen Blick hinter die Kulissen oder in die Foren des NCI beziehungsweise des Netzwerk IT geworfen haben. Gruß TheoRie

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von Theorie am 5.Juni 2006 14:59
Hallo Forumsteilnehmer, weshalb entfernen sich die Gewerkschaften und deren Miglieder in den von ihnen kontrollierten Institutionen zunehmend auch von den Berufstätigen? Weil’s ihnen noch zu gut geht, aus Frustration, aus Ratlosigkeit – oder warum? Wenn man sich zumindest noch bemühen würde, für die Basis der Arbeitnehmer oder wenigstens für die eigenen Mitglieder etwas – wohlgemerkt Sinnvolles - zu erkämpfen. Dann dürften sie auch guten Gewissens sagen:„Wir haben alles mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, aber leider konnten wir in diesem Fall unsere Ziele nur teilweise erreichen.“ Beweise für diese Passivität gibt es genügend, wobei merkwürdigerweise die unteren Lohngruppen (Auszubildende, Teilzeitbeschäftigte, Frauen sowieso …) von den daraus resultierenden Konsequenzen besonders betroffen sind. Sogar eine eventuelle Gewerkschaftszugehörigkeit der Betroffenen scheint überhaupt keinen Einfluss mehr auf Entscheidungsfindungen zu besitzen. Dieses offensichtliche Desinteresse muss doch unweigerlich zur Gründung sogenannter unabhängiger Leidensgemeinschaften führen. Aber ehe man sich versieht, tauchen plötzlich die großen Urgesteine aus der Versenkung auf und fühlen sich wieder mächtig und stark, wenn sie aus allen Rohren auf die Abtrünnigen schießen können. Ein Besinnen oder Umdenken scheint gegenwärtig in noch weitere Ferne gerückt zu sein. Nach den Betriebsratswahlen ist es äußerst schnell wieder still geworden. Stört man die Interessenvertreter bei ihrem konzentrierten Nachdenken, dann murmeln sie in der Regel etwas wie, „ERA – ganz wichtige aber sehr komplizierte Angelegenheit, die nur etwas für Experten ist.“ und versinken wieder in ihrer Selbstbeschäftigung. Unterscheidet sich der Betrieb, bei dem ich beschäftigt bin, deutlich von anderen oder gehört die geschilderte Situation mittlerweile zum Normalfall? Wer kann von positiven Beispielen berichten, wo die Interessenvertretungen ihren Aufgaben und Zielen besser gerecht werden? Gruß TheoRie

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 5.Juni 2006 22:43
Hallo TheoRie, Vielleicht ist es die Trägheit der Masse. In den letzten Jahren hat sich so viel verändert, und eine Organisation wie die IGM kann sich nicht so rasch auf neue Anforderungen einstellen. Der Personalabbau bei Siemens, der vor etwa 5 Jahren begann, war eine völlig neue und ungewohnte Situation. Damit hatte niemand gerechnet, die Betroffenen am allerwenigsten. Ich erinnere mich noch daran, wie ich von Freunden und Verwandten zu hören bekam: "Sei froh, dass du bei Siemens bist, die werfen dich schon nicht raus, die tun sowas nicht." Offenbar hielt auch die IGM es bis dahin für unnötig, sich Gedanken über einen möglichen Stellenabbau bei Siemens in München zu machen. Das kam dann ziemlich plötzlich. Und da die Gewerkschaft nicht in der Lage war, die nötige Unterstützung zu leisten, entstand eine Art "Selbsthilfeverein". Das ist an sich nicht ungewöhnlich. Solche Selbsthilfegruppen gibt es überall (z. B. Alleinerziehende, chronisch Kranke, Unfallopfer, Kinder mit Schulproblemen etc.) und sie leisten wertvolle Arbeit in unserer Gesellschaft. Ich sehe so etwas positiv: Eigeninitiative ist besser als passives Abwarten und Jammern. Schade nur, dass dieses Selbsthilfenetzwerk als Konkurrenz zur IGM angesehen wird. So etwas kann im Endeffekt nur schaden. Ich finde es ganz in Ordnung, wenn auch NCI eigene Kandidaten für den BR aufstellt. Warum nicht? Das ist wie in der Kommunalpolitik: Parteizugehörigkeit zählt da nicht so sehr, es geht mehr um die Persönlichkeit. Wenn die Zusammenarbeit in der Praxis funktioniert, spielt es keine Rolle, wieviele verschiedene Listen im BR vertreten sind. Unterschiedliche Meinungen wird es immer geben, die Frage ist, wie die einzelnen Mitglieder mit solchen Konflikten umgehen! Und das wiederum hängt nicht unbedingt von der Listenzugehörigkeit ab. Gruß, Heidi

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von Theorie am 6.Juni 2006 01:15
Liebe Heidi, jetzt muss ich gehörig aufpassen, damit ich bei dieser komplexen Thematik den Faden nicht verliere und mich vielleicht missverständlich äußere. Die Trägheit der Masse hat natürlich auch unbestreitbare Vorteile, wie Du sehr treffend durch den Vergleich mit dem damaligen Vorzeigeunternehmen beschreibst, das über einen sehr langen Zeitraum sowohl für seine technologische Führungsrolle als auch die tatsächlich vorhandene Arbeitsplatzsicherheit bekannt gewesen ist. Auch ich habe des Öfteren neidisch über den Firmenzaun geblickt. Aber eine Reaktionszeit, die bald zwanzig (20) Jahre überschreitet, halte ich für absolut nicht angemessen und entschuldbar! Die organisationsbedingte Trägheit hat vermutlich nur einen geringen Anteil an der Gesamtverzögerung. Zumindest die in den besseren Zeiten aufgestiegenen Funktionäre sträuben sich vielfach mit einem „Das haben wir immer schon so gemacht.“ gegen einen Blick aus dem Fenster. So scheinen manche der freigestellten Betriebsräte noch nicht einmal bewusst registriert zu haben, dass es in ihrem Betrieb seit über zehn Jahren keine Fertigung mehr gibt, sondern versuchen sich möglichst stressfrei in den Ruhestand zu retten. Da spielt die Listenzugehörigkeit wirklich nur eine ganz untergeordnete Rolle, denn die Interessenvertretung funktioniert häufig auch bei bereits nur einer Liste nicht mehr vernünftig. Zum einen reduzieren die Selbsthilfegruppen für die Geschäftsführung etwas die Berechenbarkeit der Gremien und zum anderen versuchen sie nach wie vor den alten Hasen die Vorteile eines Computers zu erklären. Mit etwas Glück werden vereinzelt noch welche von ihren eigenen zwischenzeitlich erwerbstätigen Kindern wachgerüttelt, aber allzu viel Hoffnung würde ich mir da nicht machen. Jetzt nach den Wahlen werden sie erst einmal wieder eine ganze Weile fest schlafen, während andere wieder nur den Kopf schütteln und hoffen, dass dieser oben bleibt. Gruß TheoRie

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 6.Juni 2006 20:23
[quote:TheoRie format="text/plain"]Zumindest die in den besseren Zeiten aufgestiegenen Funktionäre sträuben sich vielfach mit einem „Das haben wir immer schon so gemacht.“ gegen einen Blick aus dem Fenster. [/quote] Da hast du eins der Hauptprobleme exakt auf den Punkt gebracht! Wer zu lange so einen Posten innehat, wird leicht etwas behäbig und neigt dazu, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Sicher hat die IGM in der Vergangenheit beachtliche Erfolge erzielt, das wird niemand ernsthaft bestreiten. Aber jetzt muss sich diese Gewerkschaft neuen Herausforderungen stellen, z.B. der EU-Osterweiterung. Da gibt es nun Nachbarländer mit deutlich niedrigerem Lohnniveau, die Investoren anlocken. Das gab es in den 70er Jahren noch nicht. Dazu kommt, dass neue Technologien die Auslagerung anspruchsvoller Tätigkeiten (z. B. SW-Entwicklung) stark vereinfachen. Dadurch haben die Arbeitgeber ein Druckmittel, das ihnen früher nicht zur Verfügung stand! Allerdings ist hier auch die Regierung gefordert. Der Erhalt von Arbeitsplätzen in Deutschland kann nicht allein in den Verantwortungsbereich der Gewerkschaften fallen. Subventionen sollte es nur geben, wenn dadurch auch Arbeitsplätze gesichert werden. Jetzt müssen Gewerkschaftsfunktionäre auch mit Politikern verhandeln, nicht nur mit Arbeitgebervertretern. Sie müssen deutlich machen, welche sozialen Folgen die massenhafte Auslagerung von Arbeitsplätzen hat. Das können auch Netzwerke wie NCI recht gut. Sie schaffen es, Politiker auf die Betroffenen aufmerksam zu machen und zeigen nicht nur Statistiken, sondern persönliche Schicksale. Hier sehe ich eine Chance, wie Selbsthilfegruppen und Gewerkschaften an einem Strang ziehen können. Das klappt erheblich besser, wenn dieses alberne Konkurrenzdenken endlich überwunden wird! Gruß, Heidi

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 6.Juni 2006 21:58
Liebe Heidi, gefällt mir gut, was Du schreibst. Gruß Friederike

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 6.Juni 2006 23:13
[quote:Anonymous User format="text/plain"]wenn dieses alberne Konkurrenzdenken endlich überwunden wird![/quote] Mir persönlich ist es sowieso ein Rätsel, warum sich die IG Metall NCI überhaupt als Konkurrenz empfindet. Sie sollten doch froh sein, ergänzend zu ihrer tarifpolitischen Arbeit, Menschen zu haben, die sich mit entsprechender Kompetenz, durch Beratung und Aufzeigen von Situationen, helfen, dass Mitarbeiter ihre Rechte wahrnehmen. Meines Erachtens ist es schlicht und einfach Neid und die Unfähigkeit Kompetenzen anzuerkennen sowie die Angst, dass irgendwann die Mitarbeiter mehr wissen als sie. Wie viele Betriebsrate in wie vielen Betrieben kennen denn überhaupt ihre Rechte, wissen, was mitbestimmungfähig ist und was nicht. Wie viele machen sich denn überhaupt Gedanken darüber, welche enorme Verantwortung der Gesetzgeber ihnen übertragen hat. Es ist erschreckend wie viel Unwissen bei allem gut meinen vorhanden ist. Unwissenheit an sich ist zunächst mal nicht schlimm. Sie wird nur schlimm, wenn die Bereitschaft fehlt zu lernen. Und vielfach fehlt diese, weil es mühsam ist. Aber dann sollte man ein solches Amt nicht machen! Schlechte BR verschenken unsere Rechte an den Arbeitgeber. Dies beginnt mit dem Verschenken unserer Informationsrechtes, in dem man sich an die Schweigeforderung des AG hält!

Re: Ist die Zeit der großen Einheitsgewerkschaften in Deutschland vorbei?

Abgeschickt von jackpeter am 6.Juni 2006 23:27
Neid und die Unfähigkeit Kompetenzen anzuerkennen sowie die Angst, daß irgendwann die Mitarbeiter mehr wissen als sie. Das bringt die Dinge ziemlich auf den Punkt. Wenn ich wirklich Fortschritt will, Weiterentwicklung, dann setze ich alles daran, daß Fähigkeit und Kompetenz entsteht, und daß Leute heranwachsen, die es besser als ich können. Dann habe ich gewonnen! Gruß Friederike (Du bist hundertprozentig eine Frau)
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