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Streikrecht und Politischer Streik in Deutschland

erstellt von Forum Berlin zuletzt verändert: 16.08.2008 09:53
Diskussion und unsere Position zum Thema

Streikrecht und politischer Streik in Deutschland

Beim monatlichen Dienstag-Treffen des Forums Betrieb, Gewerkschaft und Soziale Bewegung Berlin am 30. Oktober 2007 wurde das Thema Streikrecht und politischer Streik in Deutschland diskutiert. Anlass war die Öffentliche Diskussion in gewerkschaftlichen und politischen Kreisen um den politischen Streik bzw. das politische Streikrecht, sowie die aktuellen Ereignisse des GDL-Streiks. In einem Einleitungsreferat wurde die Streikrechtssituation in Deutschland insbesondere hinsichtlich des politischen Streiks in Grundzügen umrissen. Als Ausgangspunkt wurde dabei auf die Koalitionsfreiheit nach Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetz Bezug genommen, nämlich "Das Recht zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden...". Dieser nur sehr allgemein formulierte Passus, in dem weder Gewerkschaften noch Streiks als Kampfmittel begrifflich auftauchen, soll die staatliche Neutralität in Tariffragen dokumentieren, eröffnet jedoch einen breiten Spielraum für Auslegungen durch die Arbeitsrechtssprechung. Im Laufe der BRD-Geschichte hat sich so ein richterliches Arbeitskampfrecht mit Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und einem Niederschlag in der juristischen Fachpresse als "herrschende Meinung" ("h.M.") gebildet, in der Streiks ganz allgemein eher als unerwünscht gelten, weil sie den sozialen Frieden beeinträchtigen und volkswirtschaftliche Schäden verursachen. Sie sind danach nur unter bestimmten Bedingungen zulässig: in ihrem Ziel müssen sie sich auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen richten, tarifvertraglich regelbar sein und Forderungen beinhalten, die vom sozialen Gegenspieler als Adressaten erfüllbar sind. Streiks dürfen nur durch Gewerkschaften durchgeführt werden und sollen das letzte Mittel sein, nachdem die Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Dies spiegelt sich auch in den aktuellen Begründungen zur vollständigen bzw. teilweisen Untersagung des Streikrechts für die GDL durch die Arbeitsgerichte Nürnberg und Chemnitz wieder:

a) "Durch den Streik drohen nicht nur den Antragstellern, sondern der gesamten Volkswirtschaft insbesondere in der Hauptreisezeit immense wirtschaftliche Schäden." (aus der Veröffentlichung des Urteils mit Aktenzeichen 13 Ga 65/07 durch die Pressestelle des Landesarbeitsgerichts Nürnberg auf der Internetseite des Gerichts),

b) "Da zugleich aber dem auch im Arbeitskampfrecht geltenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen werden müsse, würden Streiks der GDL in den Betrieben untersagt, in welchen sie einen unverhältnismäßigen Schaden zur Folge hätten." (aus der Pressemitteilung vom 5.10.2007 der Arbeitsgerichts Chemnitz, veröffentlicht auf der Internetseite des Landesarbeitsgerichts Chemnitz).

Obwohl das BAG politischen Streik nicht direkt für unzulässig erklärt hat, ergibt sich aus den oben wiedergegebenen richterlichen Streikrechtsgrundsätzen in der logischen Folge natürlich ein Ausschluss des politischen Streiks, da bei diesem ja der Staat der Adressat der Forderungen wäre (z.B. "Rücknahme der Hartz IV-Gesetze" oder "keine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67"). Durch den vom Gesetzgeber im Grundgesetz vorgesehenen Interpretationsspielraum entsteht so ein demokratisch nicht kontrollierbares und nicht legitimiertes Richterrecht zugunsten der Kapitalseite - im Grunde eine Klassenjustiz. Demgegenüber steht eine Auslegung der verfassungsmäßigen Koalitionsfreiheit, wie sie z.B. Wolfgang Abendroth vertritt (wiedergegeben z.B. im Referat von Tom Adler anlässlich einer Veranstaltung in Stuttgart "100 Jahre Sozialistenkonferenz 1907"), wonach ein Streik nur politisch sei, der überhaupt keinen Bezug zur Arbeiterbewegung habe. Ein Streik zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen mit allgemeinen sozial- und wirtschaftspolitischen Forderungen (z.B. gegen Agenda 2010 und Rente mit 67) ist demnach im Sinne der Koalitionsfreiheit des Grundgesetz ein zulässiger Streik, wenn er ein Demonstrationsstreik ist (analog der grundrechtlich ebenfalls garantierten Versammlungs- und Meinungsfreiheit). Ein politischer Kampf - oder Erzwingungsstreik, der effektiven Widerstand entfaltet, ist nach dem Zeitungsstreik 1952 gegen die Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes als Einflussnahme auf das Parlament und die Regierung für unzulässig erklärt worden. Verfassungsgemäß wäre er nur im Rahmen des Widerstandsrechts gemäß Artikel 20 Absatz 4 denkbar ("Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist"; zum Beispiel u.U. bei dem von Verteidigungsminister Jung propagierten Abschuß von gekaperten Passagierflugzeugen, eine Initiative, die von vielen Seiten als Verfassungsbruch angesehen wurde.).

In der Diskussion um das politische Streikrecht wird öfters Bezug auf internationale Regelungen genommen, die weniger restriktiv als die deutschen seien, wie die Europäische Sozialcharta oder die der ILO (International Labour Organisation). So erwähnt die Europäische Sozialcharta in Teil II Artikel 6 Absatz 4 ausdrücklich "... das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen.". Ein positiver Bezug auf diesen Passus muss jedoch in Frage gestellt werden, da bezüglich der vorbehaltlichen Verpflichtungen "aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen" die Sozialcharta weiter unten im Artikel 31 Einschränkungen dieses Rechts im nationalen Rahmen vorsieht, "...wenn diese gesetzlich vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer oder zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Sicherheit des Staates, der Volksgesundheit und der Sittlichkeit notwendig sind.". Die Grundsätze der ILO bezüglich des politischen Streiks lassen sich wie folgt zusammenfassen:

· Streiks mit rein politischem Charakter sind nicht durch die Vereinigungsfreiheit gedeckt.

· Streikaktionen sollen Protest ausdrücken, aber keinen Friedensbruch beabsichtigen.

· Das Streikrecht bezieht sich sowohl auf die unmittelbaren beruflichen und gewerkschaftlichen Angelegenheiten als auch auf die allgemeine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die einen Einfluss auf ArbeiterInnen-Interessen hat; das Verbot eines solchen Streiks stellt eine ernste Verletzung der Vereinigungsfreiheit dar.

· Eine Ausnahme von diesem generellen Streikrecht wird nur akzeptiert bei öffentlich Bediensteten mit hoheitlichen Aufgaben oder mit Tätigkeiten deren Unterbrechung eine Gefährdung von Leben, Sicherheit oder Gesundheit der Bevölkerung mit sich bringt.

· Die Vereinigungsfreiheit umfasst sowohl Streiks auf lokaler wie auf nationaler Ebene, also auch Generalstreiks mit politischer Bedeutung.

[Quelle: auszugsweise übersetzt aus ILO Principles concerning the right to strike, Seite 14 /15, (Bernard Gernigon/Alberto Odero/Horacio Guido), International Labour Office / Genf, International Labour Organisation 1998 (ISBN 92-2-111627-1), veröffentlicht zuerst in: International Labour Review Vol. 137 (1998), No.4.]

Damit deckt sich der Begriff des politischen Streiks der ILO im wesentlichen mit dem Wolfgang Abendroths (politischer Demonstrationsstreik zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen), hat jedoch in der Praxis dennoch nicht zu einer entscheidenden Wirkung auf die Arbeitsrechtsprechung in Deutschland beigetragen. Zum internationalen Bezug wurde des Weiteren ergänzt, dass die Generalstreiks in verschiedenen europäischen Ländern auch nichts anderes als Demonstrationsstreiks (nämlich Aktionstage) sind und keine Kampfstreiks zum Sturz einer Regierung oder zur Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

In der nachfolgenden Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass es auch in Deutschland eine gängige Praxis politischer und wilder Streiks gibt, bei denen sich die Streikenden in ihren Aktionen über den legalen Rahmen hinwegsetzen. Es kommt weniger auf das Streikrecht an, vielmehr auf eine aktive und offensive Kampfpraxis, denn was möglich oder durchsetzbar ist, ist eine Frage der Kräfteverhältnisse - oder wie Tom Adler in seinem Referat (vgl. oben) bemerkte: "Rechtsfragen sind Machtfragen". Dies gilt auch für mögliche negative Folgen von Streiks außerhalb des legalen Rahmens (Kündigungsandrohungen, Schadensersatzansprüche usw.). Auch diese lassen sich bei entsprechender Dynamik und Stärke der Kampfmaßnahmen in die Verhandlungsmasse einbringen, abmildern oder sogar ausschließen. Einigkeit bestand darin, dass ein politisches Demonstrations-Streikrecht zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in Auslegung des Artikels 9 Abs. 3 Grundgesetz als gegeben angesehen wird. Als Kampfmittel bei allgemeinen sozial- und wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen ist es legitim und unverzichtbar. Es hätte z.B. bei der gewerkschaftlichen Kampagne gegen die Rente mit 67 Anfang des Jahres aufgrund der großen Betroffenheit und Mobilisierungsfähigkeit der Kolleginnen und Kollegen und aller betroffenen Menschen sehr wirkungsvoll eingesetzt werden können (und müssen). Das Argument, es gäbe kein politisches Streikrecht in Deutschland erscheint vor diesem Hintergrund lediglich als Ausrede und Vorwand, um keinen politischen Streik als Kampfmittel einsetzen zu müssen. Ohnehin wurden Streiks weit weniger von Gerichten verboten als von gewerkschaftlicher Seite in vorauseilendem Gehorsam gar nicht erst konsequent eingesetzt. Hierin dokumentiert sich eine Gewerkschaftspolitik, die die Beschränkungen des Streikrechts seit langem akzeptiert hat und sich nicht als konfliktbereite Gegenmacht zur Kapitalseite versteht, sondern weit mehr auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit als Tarifpartner (im Sinne eines Co-Managements) setzt. Was nützt aber ein politisches Streikrecht, wenn dieses Recht gar nicht extensiv genutzt wir? Ohnehin müsste das Recht auf politischen Streik erkämpft werden, was angesichts der politisch-gesellschaftlichen (Parteien-) Landschaft wahrscheinlich nur mit einem außerparlamentarischen politischen Kampfstreik möglich erscheint, also von vornherein den legalen Boden verlassen würde. Insgesamt kommt es daher darauf an, den politischen Streik in der Praxis mehr zu etablieren und breit zu propagieren. Dabei ist eine Unterscheidung in politischen und ökonomischen Streik vielleicht gar nicht so entscheidend (wie auch Tom Adler in seinem Referat ausführte), denn ob ein Streik politischen Charakter annimmt, richtet sich auch nach der Intensität mit der er geführt wird und die ihn unter Umständen zu einer grundsätzlichen Machtprobe zwischen Kapital und Arbeit (und damit hochpolitisch) werden lässt, wie das jüngste Beispiel der GDL uns vor Augen führt.

(Hier der Text zum Runterladen als PDF: http://www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/erfahrung/polstreik_b.pdf)

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