Freitag, 2. November 2012

DIE WUT DES GEWERKSCHAFTERS GABY COLEBUNDERS BEI FORD GENK

„Wenn es für mich problematisch wird, lese ich was im Tagebuch von Che Guevara – vielleicht müssen wir das ganze Land stilllegen“ übersetzt von Jens-Torsten Bohlke Brüssel, 27. Oktober 2012, De Standaard. (auf Kommunisten-online am 2. November 2012) – Ein bis drei Stunden täglich hat er in dieser Woche nur geschlafen. Tag und Nacht stand er bei FORD am Fabriktor auf Streikposten. Gaby Colebunders ist ein Gewerkschafter mit einem roten Herzen und viel Ansehen: „Wir wollen unser Geld zurück. Die Fabrik ist unsere Fabrik.“ Zuweilen sind Tränen in seinen Augen zu sehen. Es ist der Donnerstagabend, beinahe Mitternacht. Und an seinem Küchentisch holt Gaby Colebunders Erinnerungen über Jef Ulburghs, jenen Priester und Politiker heraus, der sich stets für den kleinen Mann einsetzte. „Für mich ist Jef immer noch eine Art Gott“, sagt er. „Ohne ihn wäre ich wohl in der Kriminalität gelandet. Er war unser Nachbar, seit ich klein war. Und er kümmerte sich um mich. Als ich zehn Jahre alt war, nahm er mich überall hin mit, auch auf die Demonstrationen und die Bergarbeiterstreiks. Dank ihm bin ich heute der, der ich bin.“ Als Gewerkschafter genießt Colebunders (39) hohes Ansehen. Seine Kollegen erzählten, wie Colebunders vor sieben Jahren mit einem Vertreter eines Betriebes aneinandergeraten war, der auf einen Streikposten losging. Dass viele Arbeiter erst einmal zu ihm rüberschauen, bevor sie mit dem einverstanden sind, was die Gewerkschaftssekretäre ihnen erzählen. Wie die grüne Gewerkschaft ACV ihn reinholte, nachdem die rote Gewerkschaft ABVV ihn rausgeworfen hatte. Dass er bei den Sozialwahlen einer der mit den meisten Stimmen gewählten Belegschaftsvertreter ist. Dass er jetzt, zwei Stunden vor seiner Fahrt zu FORD, von Gefühlen übermannt wird, kommt auch davon, dass er fast eine ganze Woche lang ununterbrochen am Werkstor stand. „Ohne Nachtruhe“, sagt er. „Ich bin erschöpft. Nur ein oder zweimal war ich zuhause, um mich frisch zu machen. Heute Morgen habe ich erstmals drei Stunden durchgeschlafen. Ansonsten habe ich die ganze Woche auf Streikposten gestanden. Seit Montagabend.“ WARUM DAS ALLES? „Weil ich bereits wusste, dass etwas nicht stimmte. Um 08.00 habe ich eine Mitteilung wegen einer Sondersitzung des Betriebrats am Mittwoch erhalten. Ein wenig später wurde ich von der Personalabteilung angerufen, die jeden persönlich in Kenntnis setzen musste. Und mitteilen musste, dass auch noch ein Telegramm und ein Brief per Einschreiben unterwegs sind. Da wusste ich: Das ist das Renault-Gesetz in Aktion. Das Management will sich strikt an alle rechtlichen Schritte halten. Wir haben sofort beschlossen, alles zu blockieren. Die Fabrik nehmen wir als unsere Geisel.“ WIE KAMEN DIE NACHRICHTEN AM MITTWOCHNACHMITTAG RÜBER? „Das war die kürzeste Betriebsratssitzung aller Zeiten. Wobei die Stühle der europäischen Bosse leer blieben. Der Direktor von Ford Genk las mit bibbernder Stimme einen kurzen Text vor. Die Niedergeschlagenheit war gewaltig. Unmittelbar darauf strömten Hunderte von Menschen zu den Streikposten. Die Trauer schlägt dann allmählich in Wut um. Sie haben uns wie Zitronen ausgequetscht. Seit Jahren haben wir. Menschen nicht einmal gewagt, krank zu sein, weil Krankheit bei der letzten Umstrukturierung im Jahr 2003 ein Kriterium für die Entlassung war. So weit hatten sie es bei uns gebracht.“ WIE LANGE ARBEITEN SIE SCHON BEI FORD? „Zwanzig Jahre. Davon den größten Teil freigestellt. Gewerkschaftsarbeit in so einer Fabrik ist mehr als ein Vollzeitjob. Du läufst da stundenlang herum und hilfst den Menschen mit allen ihren Problemen. Und du versuchst zu erreichen, dass sie auf menschenwürdige Weise ihre Arbeit machen können.“ WAR DAS NOCH MÖGLICH? „Nein, natürlich nicht. Als ich als Gewerkschaftsdelegierter begonnen hatte, waren die Hauptgründe für Abwesenheit Grippe-Infekte. In den letzten Jahren wurde daraus vor allem Stress, burn-out und Depressionen. Die Belastung für die Menschen an den Fließbändern hat enorm zugenommen. Dort darf keine Sekunde mehr verloren gehen. Wir bauen immer mehr Autos mit immer weniger Menschen. Und selbst die Gewerkschaften waren zögerlich, um noch Aktionen durchzuführen, keine traute sich mehr aufzumucken. Wenn die Menschen unterdrückt sind und ihnen Angst eingejagt worden ist, essen sie dir aus der Hand. Das wissen sie bei Ford nur zu gut.“ HABEN SIE 2008 KEINE KAUFKRAFTSTREIKS ORGANISIERT? „Doch. Darum bin ich bei der ABVV rausgeflogen. Ich will hinzufügen, ich wollte damals nicht auf meine Kollegen scheißen, ich glaubte an die Statuten der ABVV, um das mal deutlich auszusprechen. Aber es gab bereits Spannungen. Die Kaufkraftstreiks wurden begonnen, damit wir einen symbolischen Euro an Zuschlag forderten, also ganz und gar nicht so wie bei den Zulieferbetrieben. Auch in den anderen Betrieben wurden damals Aktionen durchgeführt, oftmals sogar ohne die Gewerkschaften. Eben weil die Gewerkschaften ängstlich waren. Das war auch 2010 so. Da wollte man keine Belegschaftsabstimmung über die berühmten 12% Lohnabsenkung machen. Alles haben wir geschluckt, um die Fabrik zu retten. Aber du siehst, was dabei rausgekommen ist.“ 2007, ALS EINE ANZAHL ABVV-AKTIVISTEN DER SP.A NACH DEM GENERATIONENVERTRAG DEN RÜCKEN KEHRTE, WAREN SIE AUCH BEI DENEN, DIE WIR IM FERNSEHEN SAHEN ... „Ja, ich war mit dabei. Ich war zu jener Zeit noch Mitglied bei der SP.A und der Favorit für Genk. Ich hatte sogar ein Haus erhalten, welches ich für einen sehr vernünftigen Preis mieten konnte. Am 1. September 2007 zog ich dort ein, und zwei Wochen später wurde der Generationenvertrag beschlossen. Ich habe daraufhin den Schlüssel des Hauses und meine Mitgliedskarte der SP.A zurückgegeben. Warum sollen Menschen länger arbeiten müssen, wenn die jungen Schulabgänger keine Arbeit finden können? Das ist Unsinn. Ich bin ein Sozialist und will seitdem mit der SP.A nichts mehr zu tun haben.“ WOHER KOMMT DIESE RADIKALE HALTUNG? VON JEF ULBURGHS? „Ganz genau. Er war mein Patenonkel. Meine Mutter hatte drei Kinder und musste als alleinstehende Frau mit einem Mindestlohn über die Runden kommen. Wir lebten im Armenhaus von Zwartberg. Ich darf wirklich sagen, dass ich Armut kennengelernt habe. Glücklicherweise war Jef unser Nachbar, und er nahm mich unter seine Fittiche. Ohne ihn wäre ich auf dem falschen Weg geraten. Er hat mir gezeigt, wie die Welt wirklich funktioniert. Ich schaute sehr zu ihm auf. Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich über ihn rede.“ WAS HAT ER SIE GELEHRT? „Dass du stets für die Unterdrückten, die Armen, die an den Rand der Gesellschaft Gedrängten Partei ergreifen musst. Dass du nicht einfach mal eben glaubst, was sie dir erzählen. Dass du stets für deine Ideale kämpfen musst. Er hat mich auch Che Guevara kennenlernen lassen. Das ist auch ein Held für mich. Jemand, den ich mir zum Vorbild nehmen wollte. So wie andere Jugendliche Fußballspieler wie Ronaldo oder Messi verehren, so wollte ich von klein auf Che verehren. Wenn es für mich problematisch wird, lese ich in seinem Tagebuch.“ DEN GLAUBEN HABEN SIE VON ULBURGHS NICHT BEKOMMEN? „Nein, meine Mutter ist extrem gläubig. Und ich habe viel Respekt vor Menschen, die Gläubige sind. Aber ich kann das nicht. Wenn ich sehe, was hier ständig geschieht, kann ich nicht an Gott glauben. Wenn Gott unser Vater ist, dann sorgt er sich doch wohl sehr schlecht um uns. Übrigens, heute hat die PVDA in Genk wieder einen Priester, der gewählt worden ist. Das kann die christdemokratische CD&V von sich nicht sagen.“ Er grinst. SIE SIND JETZT BEI DER PVDA AKTIV. „Hinter den Schirmen. Aber ich werde vorläufig auf keiner Liste stehen. Ich bin nicht für die Politik geschaffen. Ich bin ein Gewerkschaftsmensch auf Herz und Nieren. Ich beschäftige mich mit der Jugendarbeit, das klappt gut. Das habe ich bei Racing Genk auch getan. Als mir bewusst wurde, dass der harte Kern der jungen Arbeiter nach rechts abgedriftet war, organisierte ich eine Zeit lang Diskussionsabende und Filmabende, um den jungen Leuten ein wenig politisches Bewusstsein beizubringen.“ WIE KAMEN SIE SELBST ALS JUGENDLICHER BEI DER GEWERKSCHAFT ZURECHT? „Ich erhielt meine erste Gewerkschaftslektion von Ulburghs, unter anderem in der Zeit der Bergarbeiterstreiks, wo er mich mitnahm, als eine Art Maskottchen. Von ihm lernte ich, dass es nicht hinnehmbar ist, wenn die Polizei Menschen festnimmt, die allein deshalb eine Aktion durchführen, damit sie ihren Arbeitsplatz behalten. Als ich 17 war, begann ich in einer Kartonfabrik in Houthalen zu arbeiten, denn das Geld, um mich studieren zu lassen, hatte meine Mutter nicht. In der Kartonfabrik wurde ich dann Mitglied der Jugendgruppe der Gewerkschaft. Als ich 18 wurde, hat mein damaliger Schwiegervater mir geholfen, bei Ford reinzukommen. Arbeitsplatzsicherheit garantiert, so dachte damals noch jeder.“ WAS BEDEUTET DIE SCHLIESSUNG VON FORD FÜR DIE PROVINZ LIMBURG? „Das ist ein Blutbad. Es wird mindestens fünfzehn Jahre für Limburg dauern, bis das wiederhergestellt sein wird. Zählt man alle Zulieferbetriebe dazu, werden ca. 10.000 Menschen ihre Arbeit verlieren. Ich denke nicht, dass wir heute alle Folgen absehen können. Was wir einst bei den Bergwerken durchgemacht haben, machen wir in den kommenden Jahren nun erneut durch.“ WAS WOLLEN SIE DENN IN DEN KOMMENDEN TAGEN UND WOCHEN GESCHEHEN LASSEN? „Ich rege mich etwas über die Diskussion über den vorgezogenen Vorruhestand auf. Dazu spreche ich jetzt hier natürlich nicht im Namen der Gewerkschaften. Aber ich frage mich, warum es nun um vorgezogenen Vorruhestand gehen muss. Ich habe stets gelernt, dass die Beibehaltung des Arbeitsplatzes die erste Priorität sein muss. Wir sollten erst einmal alles versuchen, ob Ford nicht doch verpflichtet werden kann, die Arbeit auf ehrliche Weise in Europa zu verteilen.“ IST DAS NICHT ETWAS UTOPISCH? „Warum? Europa kann doch Richtlinien erlassen. Die Limburger Politiker im Europäischen Parlament werden da doch was machen können. Die deutsche Bundeskanzlerin kann doch sogar beschließen, was in Griechenland passieren muss. Dann können sie doch in Europa auch Ford hindern, verschiedene Länder gegeneinander auszuspielen. Die Einführung des Frauenstimmrechts galt seinerzeit auch als utopisch.“ SIE GLAUBEN NOCH AN EINE ZUKUNFT FÜR FORD? „Warum nicht? Es kann auch ein Übernehmer gesucht werden. In Asien sind Betriebe, die mit so einer perfekt situierten Fabrik was anfangen könnten. Oder es gibt noch eine Möglichkeit. Warum soll der belgische Staat die Fabrik nicht übernehmen können? Jahrelang hat Ford Subventionen und andere Leistungen erhalten. Genug damit, wir wollen das Geld zurück. Die Fabrik gehört uns. Vielleicht müssen wir hier bald sogar ökologische Büsse produzieren, die mit Wasserstoff fahren. Ich sage das nur mal so dahin.“ WERDEN SIE NICHT LIEBER SO EINE ABSCHIEDSPRÄMIE KASSIEREN? „Was soll ich damit anfangen, wenn ich keinen Arbeitsplatz mehr habe? Auch wenn ich hier 50.000 Euro netto ausgezahlt bekomme, dann löst so eine Prämie doch gar nichts. Meine Frau und ich arbeiten alle bei Ford. Wenn wir auf einen Schlag arbeitslos sind, dann fallen wir in ein paar Jahren auf das schmale Arbeitslosengeld zurück. Und dabei müssen wir allein für unser Haus 1100 Euro monatlich abzahlen.“ GLAUBEN SIE NICHT, DASS SIE EINE ANDERE ARBEIT FINDEN KÖNNEN? „Für mich persönlich wird das ganz und gar nicht einfach sein. Ich habe meinen Ruf bei den Unternehmern weg. Deswegen sind sie nicht bereit, um mich einzustellen. Na schön, es macht keinen Sinn, darüber zu jammern. Ich muss dann eben für mich selbst sorgen. Aber auch für die anderen Menschen wird das schwierig werden. Wo sollen sie gleich Arbeit finden? In den Boutiquen in den Einkaufszentren? Bei Ikea? Vergessen wir mal nicht, dass die Boutiquen und Ikea zu einem großen Teil wegen der Menschen von Ford über die Runden kommen. Wenn wir entlassen werden, hat hier kaum noch jemand die Euro, um Kleidung oder Möbel zu kaufen. Das wird für jeden hier ein Drama. Auch für den Mittelstand. Du musst kein Ökonom sein, um das zu begreifen.“ DIE GEWERKSCHAFTEN KONNTEN IN DEN VORIGEN JAHREN NUR AUF WENIG SYMPATHIE RECHNEN. WIRD SICH DAS ÄNDERN? WAS DENKEN SIE? „Ich finde, dass die Medien in den letzten Jahren eine große Rolle gespielt haben. Die Gewerkschaften wurden in all diesen letzten Jahren fast ausschließlich in einem schlechten Licht dargestellt. Nimm nur mal die Bahnstreiks. Sorry, hörst du da mal, dass die Menschen von der Bahngesellschaft NMBS nicht ihre Rechte zugestanden bekommen sollen, nur weil Herr X und Frau Y dann mal einen Tag nicht zur Arbeit gelangen? Welches andere Druckmittel haben diese Menschen denn? Ich finde, ehrlich gesagt, dass wir das Streikinstrument besser und öfter benutzen sollten. Vielleicht müssen wir das ganze Land still legen. In Frankreich wäre das längst geschehen, und dort sind gerade mal 10% der Beschäftigten in der Gewerkschaft. In Belgien sind das 80% aller Arbeiter. Wir können von Frankreich noch viel lernen.“ Wir trinken unsere Gläser aus und fahren rüber zu Ford, wo Colebunders den Rest der Nacht bleiben wird. Bei seiner Ankunft wird ihm von den Kollegen schon ständig auf die Schultern geklopft. Ob er erwartet, dass die Solidarität standhält? „Wir werden hier noch stets am gleichen Seil ziehen“, sagt er. „Was das betrifft, herrscht hier noch stets der Zusammenhalt, welchen die Bergarbeiter früher auch hatten. Und wer im Gefängnis sitzt, dem werden die anderen Kollegen jederzeit helfen. Wir würden uns niemals verraten. Ob die Sympathie der anderen Leute anhält, das ist die Frage. Es ist bequem, einen Klick auf Facebook zu machen. Und in der nächsten Woche werden viele Sympathisanten noch an das Fabriktor kommen. Aber nach ein oder zwei Wochen sind die Menschen es leid. Auch die Medien. Schon wieder Ford, werden die Journalisten sagen. Und dann verfallen die Medien in das Schweigen, und ohne Aufmerksamkeit sind wir hier nichts mehr.“ SIE KÖNNEN IMMER NOCH NACH KUBA GEHEN. „Schön, ich bin dorthin noch nie gekommen. Offen gestanden, wollte ich vor sieben Jahren mit einem guten Freund die gesamte Route von Che durch Südamerika abfahren. Aber weil ich dann eine schwere Scheidung durchmachte, ist das nicht möglich gewesen. Ich träume davon aber immer noch ständig. So wie ein Moslem mindestens ein Mal in seinem Leben nach Mekka muss, so will ich mindestens ein Mal in meinem Leben nach Kuba. Ich werde bald 40. Und darum hatten meine Frau und ich erneut Pläne geschmiedet, um dorthin zu reisen. Zwei Wochen Rundreise und eine Woche Strand. UND WANN REISEN SIE AB? „Überhaupt nicht, fürchte ich. Die Pläne liegen gerade im Mülleimer. Wir werden in den kommenden Jahren wohl viel Zeit haben, aber kein Geld mehr.“ Quelle: http://www.standaard.be/artikel/detail.aspx?artikelid=DMF20121026_00348959

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