Gekündigt wegen 1,30 Euro Tausche Abfindung gegen Ehre


Nach 31 Jahren wurde einer Kaisers-Kassiererin fristlos gekündigt. Der Vorwurf: Sie habe zwei Pfandbons unterschlagen, im Wert von 1,30 Euro. Beweisen lässt sich das nicht. Muss auch niemand. Für eine Kündigung reicht der Verdacht. Barbara E. hat ihre Geschichte stern.de erzählt.
Von Frauke Hunfeld

Manchmal kommt ihr das alles vor wie ein böser Traum. Manchmal wacht sie morgens auf und will los und erst dann fällt es ihr wieder ein. Manchmal ist ihr das alles unendlich peinlich. Allein der Verdacht. Deswegen will Barbara E. auch nicht mit vollem Namen in Berichten stehen. Und dass Leute Polonaisen durch Kaisers-Filialen getanzt haben sollen, um Solidarität mit ihr zu bekunden - ja, gehört hat sie davon. Aber sie kennt die Leute nicht.

31 Jahre ohne Tadel

Seit einem Jahr ist sie nun arbeitslos. Fristlos gekündigt wegen des Verdachts, sie habe zwei Leergutbons eingelöst, im Wert von insgesamt einem Euro und 30 Cent, die ein Kunde im Laden verloren hätte.

Dann weint sie doch noch. Ihr ganzes Leben, alles was sie sich aufgebaut hat, sei verloren. Die Arbeit weg, die Wohnung, die Kolleginnen, der gute Ruf. Fünfzig Jahre ist Barbara E. alt, drei Kinder hat sie alleine großgezogen und 31 Jahre lang arbeitete sie ohne Tadel zunächst in der DDR-Kette HO und seit der Wende in deren Rechtsnachfolger "Kaisers". Zuletzt verdiente sie 1200 Euro netto.

Sie hatte ihre Arbeit, sie hatte ihre Kinder, die geliebte Wohnung im elften Stock mit Blick über die Plattenbauten von Hohenschönhausen in Berlin, und den Dauercampingplatz, auf dem sie ihre Freizeit verbrachte. Sie hat ein einfaches Leben geführt und nicht allzu viele Leute gekannt, bis zu jenem 21. Januar 2008.

Spindkontrollen kommen alle naselang vor

Sie erinnert sich noch genau an diesen schwarzen Freitag vor gut einem Jahr. Als der Marktleiter und die Distriktmanagerin sie aufforderten, ihre Kitteltaschen zu leeren, dachte sie noch nichts. Als man sie in die Garderobe bat, und ihren Spind sehen wollte, dachte sie auch noch nichts. "So was kommt vor", sagt sie, "alle nasenlang. Manchmal, wenn wir abends die Halle abschließen, steht da plötzlich einer, zeigt den Ausweis, und dann müssen wir unsere Taschen vorzeigen und die Einkäufe belegen und die Bons prüfen lassen".

Barbara E. leerte also ihre Taschen, sie leerte ihren Spind, alles war in Ordnung und sie wollte wieder an die Arbeit gehen. Da beorderte man sie ins Büro des Marktleiters. Bat sie, sich zu setzen. Ließ sie dort eine Weile allein. Dann kam man zurück, mit ernsten Mienen und fragte sie nach ihrem Leergut, nach Bons und wer Umgang mit ihrem Portemonnaie habe. Und eröffnete ihr, dass sie drei Tage vorher Bons eingelöst haben soll, die ihr nicht gehören, und dass sie jetzt entweder selber kündigen könne, oder fristlos gekündigt würde, und der Marktleiter sagte noch: Das war ihr letzter Auftritt hier. Barbara E. sagt: "Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich hatte schlichtweg keine Ahnung. Ich kann nur sagen: Ich habe keine Bons geklaut". Aber beweisen kann sie das natürlich auch nicht.

Der Weg der fraglichen Pfandbons ist in der Tat ein verschlungener und auch die übrigen Umstände des angeblichen Verbrechens werfen Fragen auf. Fast alle Mitarbeiter erledigen gelegentlich Einkäufe bei Kaisers. Sie erhalten dafür sogar Rabatt. Und sie bringen ihr Leergut auch an den Leergutautomaten. Die Bons lassen sie sich stets abzeichnen, damit es nicht zu Verwechslungen mit Kundenpfandbons kommen kann.

Herrenlose Leergutbons gefunden

Am 12. Januar 2008 waren in der Kaisers Filiale in Hohenschönhausen zwei Leergutbons gefunden worden, von denen man annahm, dass Kunden sie verloren hatten. Die seien dem Marktleiter übergeben worden, und der habe sie E. zur Aufbewahrung gegeben, falls sich ein Kunde melde. Sie habe die Bons auf die Ablage des Kassenbüros gelegt, sie zehn Tage dort belassen, und dann, am 21. Januar 2008 um 14.45 Uhr soll sie zugeschlagen haben und diese Bons bei einem Personaleinkauf für sich eingelöst. Hinter ihr an der Kasse stand ihre Vorgesetzte und beobachtete den Bezahlvorgang. Die Kassiererin habe die Bons angenommen, will bemerkt haben, dass diese nicht abgezeichnet gewesen seien, habe aber nichts gesagt. Sie habe ganz normal abkassiert, Frau E. habe ihre Einkäufe eingepackt, die Kassiererin sei dann ins Büro gegangen, um zu sehen ob die vor zehn Tagen gefundenen Kundenbons noch auf der Ablage liegen, und als dies nicht der Fall gewesen ist, habe man den Vorfall gemeldet. Soweit die Version von Kaisers. Dazu gibt es E-Journale aus der Kasse, die belegen, dass Bons in dieser Höhe eingelöst wurden und auch Barbara E.'s EC-Karte ist dort verzeichnet. E.´s Version nimmt sich dagegen kläglich aus: Sie habe wie immer eingekauft, sie habe wie immer ihre Karte gegeben, sie habe nicht auf die einzelnen Bons geachtet. Aber sie habe keine Kundenbons gestohlen.

Wieso sich die Kassiererin zehn Tage später an die Beträge von gefundenen Bons erinnert, die mit ihr gar nichts zu tun haben, bleibt allerdings unklar. Wieso sie ihre Kollegin nicht direkt angesprochen hat, als diese nicht abgezeichnete Bons einlösen wollte, ebenfalls. Dass man drei Tage wartete, bevor man die Beschuldigungen erhob und damit zuließ, dass die Videoaufzeichnung des Kassiervorgangs gemäß der Betriebsvereinbarung gelöscht wurde, macht die Sache auch nicht einfacher.

Von der Kollegin gewarnt

Die Mitarbeiterin Barbara E. gehörte allerdings wohl zu denen, die sich nicht alles gefallen ließen. Hin und wieder gab es Auseinandersetzungen mit dem Marktleiter - wegen Mehrarbeit, wegen organisatorischer Differenzen, aber auch, so Barbara E., wegen seiner Angewohnheit, Mitarbeiterinnen vor den Kunden abzukanzeln, wenn ihm etwas nicht passte. Zudem gehörte die 50-Jährige zu den acht von damals 36 Kolleginnen in der Filiale, die beim härtesten und längsten Streik des Einzelhandels mit von der Partie waren. In Einzelgesprächen wurden die Streikenden bearbeitet - zum Schluss war Barbara E. die einzige, die noch mitmachte. Dass man ihr das übelnahm, ahnte sie wohl. Und auch, dass sie sich deswegen besser keinen Fehler erlaubte.

In der Woche zuvor hatte der Marktleiter zu einer Betriebsfeier mit anschließendem Bowlingabend geladen, die auf den Gängen "Streikbrecher-Party" genannt wurde. Ausdrücklich nicht eingeladen waren nämlich die acht Kolleginnen, die sich am Streik beteiligt hatten. Und eine Verkäuferin, so E., habe ihr am Montag darauf anvertraut: Der hat gesagt, wir sollen doch mal gucken, ob man nicht was findet gegen Dich". Am Dienstag dann war die Sache mit den Bons.

"Glaubt man denn, dass ich nach einer solchen Warnung fremde Bons einlöse", fragt E. verzweifelt. "Noch dazu, wenn meine Vorgesetzte hinter mir an der Kasse steht? Glaubt man denn, dass ich ausgerechnet die Bons, die der Marktleiter mir zur Aufbewahrung gibt, veruntreue? Ich musste doch damit rechnen, dass er danach fragt. Glaubt man wirklich, dass ich nach 31 Jahren für einen Euro dreißig meinen Arbeitsplatz riskiere?"

Umkehr der Beweislast

Am meisten verzweifeln aber lässt Barbara E., dass es am Ende völlig egal ist, wie es wirklich war. Der begründete Verdacht, es könne so gewesen sein, reicht aus - jedenfalls nach bisheriger Rechtsprechung der Arbeitsgerichte. "Verdachtskündigung" nennt sich das und es kehrt die im Strafrecht übliche Unschuldsvermutung um. Bei einem begründeten Verdacht auf eine erhebliche Pflichtverletzung ist dem Arbeitgeber nicht zuzumuten, den Arbeitnehmer weiter zu beschäftigen, es sei denn, er kann seine Unschuld beweisen. Auf die Höhe des Schadens kommt es dabei nicht an. Es sind auch schon Leute gekündigt worden, die nach zig Jahren ein halbes Stück Bienenstich genommen haben.

Anders als im Strafprozess gegen, beispielsweise, einen Herrn Zumwinkel, zählt auch die "Lebensleistung" nicht. Die Rechnung "31 Jahre gegen einen Euro dreißig nur vermuteten Schaden" wird gar nicht erst aufgemacht.

Barbara E. hat in der ersten Instanz vor dem Arbeitsgericht verloren. Der Richter begründete die Entscheidung, dass es auf die strafrechtliche Einordnung des Verhaltens der Klägerin nicht ankomme, sondern dass zumindest der dringende Verdacht besteht, dass die Klägerin einen Betrug begangen hat. Das reicht. Kaisers bestreitet, dass die gewerkschaftlichen Aktivitäten von Barbara E. für die Kündigung eine Rolle spielten.

Arbeitsklima bei Kaisers sei prima

In Frau E.s ehemaliger Filiale werden, wie überall im Einzelhandel, zunehmend geringfügig Beschäftigte, Studenten und Leiharbeiter eingesetzt. Betriebsrätin Janetta Jöckeritz beschreibt das Arbeitsklima bei Kaisers als prima. Wegen Beteiligung am Streik habe niemand Nachteile zu befürchten. Auch würden Festangestellte nicht hinausgedrängt. Nur freiwerdende Stellen durch natürliche Fluktuation würden öfters durch Aushilfen ersetzt.

Der ehemalige Marktleiter von Frau E. wurde wegen seiner "Streikbrecherparty" abgemahnt und versetzt. In verschiedenen deutschen Städten wurde von Solidaritätskomitees zum Boykott von Kaisers aufgerufen. Barbara E. beteiligt sich an diesen Aufrufen nicht.

E.s einzige Chance ist, so ihr Anwalt Benedikt Hopmann, dass das Landesarbeitsgericht die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen anders bewertet und damit den dringenden Verdacht verneint. Unabhängig davon bezweifelt er, dass in einem Fall wie diesem die Abkehr von der Unschuldsvermutung mit europäischem Recht vereinbar ist.

"Sie hören von uns"

Barbara E. musste inzwischen aus ihrer Wohnung mit dem fantastischen Hochhausblick ausziehen. Ihr Arbeitslosengeld ist so niedrig, dass es mit Hartz IV aufgestockt werden muss, entsprechend gelten die Beschränkungen für Wohnraum. Sie hat jetzt eine kleinere billige Wohnung im zweiten Stock.

Barbara E. hat inzwischen eine Computerfortbildung gemacht und ein Bewerbungstraining. Verschiedentlich hat sie ihre neuen Kenntnisse angewendet und sich als Verkäuferin beworben. Leider war sie meistens war zu alt. Wenn sie nicht zu alt war, wurde sie gefragt, weswegen sie nach 31 Jahren gekündigt worden ist. Nur ein Verdacht, hat sie gesagt, und manchmal kam sie noch dazu hinzuzufügen, dass es um einen Euro dreißig ging. "Sie hören von uns" hieß es dann, aber sie hat nie was gehört.

Ein paar Mal hat sie ehemalige Kollegen getroffen. Aber immer, wenn sie gerade auf sie zugehen wollte und fragen und erzählen, haben die die Straßenseite gewechselt, oder sind ganz schnell in die Bahn gestiegen. E. sagt, sie versteht sie ja irgendwie. Aber es tut verdammt weh.

Kaisers hatte Barbara E. zwischenzeitlich eine Abfindung angeboten. 20.000 Euro und den Ausgleich zum Arbeitslosengeld, ein exzellentes Zeugnis und eine ordentliche Kündigung statt einer fristlosen. Aber sie will das Geld nicht und auch kein Zeugnis. Sie will Gerechtigkeit und ihren guten Ruf und dafür will sie kämpfen. Und wenn sie damit fertig ist, will so schnell wie möglich zurück an ihre Kasse.


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