Nürnberg, 12. Dezember. Das Ende ist dann kurz. Mehr als 80 Jahre lang haben vier Generationen von Arbeitern im Nürnberger AEG-Werk an der Muggenhofer Straße Elektrogeräte zusammengeschraubt. In acht Minuten ist das Ende der Fabrik verkündet. Beschäftigte des AEG-Waschmaschinenwerks in Nürnberg demonstrieren gegen die Schließung des Betriebs BILD

Um 14 Uhr haben sich die meisten der 1750 Beschäftigten in der Versandhalle eingefunden, weil ihnen die Firmenleitung Wichtiges sagen will. Um 14.07 Uhr schrillen Hunderte Trillerpfeifen, verteilt von der IG Metall, dort drinnen so laut, dass es noch draußen jenseits des Werkszauns zu hören ist. Eine Minute später formiert sich vor der Halle die Spitze des Trauerzugs der Leute, die nun ihre Arbeit verlieren werden.

Jürgen Wechsler, der Zweite Bevollmächtigte der IG Metall am Ort, hatte schon mittags in einer Telefonkonferenz erfahren, was der Aufsichtsrat von Electrolux am Morgen in Stockholm beschlossen hatte: Das AEG-Haushaltsgeräte-Werk in Nürnberg wird Ende 2007 nach 85 Jahren geschlossen. Aber dass die Verkündung dann nur ein paar Minuten dauert, weil die Belegschaft den Manager, der vor sie tritt, einfach zum Teufel jagt, das hat Jürgen Wechsler doch überrascht. Andererseits aber erleichtert ihm dieses rasche Ende auch das, was er in den nächsten Stunden zu tun hat.

Er fängt die Trauer und die Wut der Leute mit einem bewährten gewerkschaftlichen Repertoire an Ritualen auf. Transparente, Parolen, Fahnen: ein Demonstrationszug rund um das Werk. Ein paar Reden von einer Lkw-Ladefläche herunter. Vom Kampf wird gesprochen, der noch nicht verloren sei, von Solidarität und schwedischen Halunken, von Hoffnung, Willkür, "unserem Werk".

Gewerkschaft und Betriebsrat hatten in den vergangenen Monaten vieles versucht, um die Fabrik zu retten. Seit einem halben Jahr waren ihnen die Pläne der schwedischen Konzernleitung bekannt, die Fertigung von Kühlschränken und Waschmaschinen von Nürnberg nach Polen zu verlagern, weil sie dort angeblich um 48 Millionen Euro im Jahr billiger kommt. Einen Einkommensverzicht von 16 Prozent hatten IGM und Betriebsrat angeboten, flexiblere Arbeitszeiten dazu.

Ein Gutachten des Info-Instituts in Saarbrücken hatte ihnen betriebswirtschaftliche Argumente zu Nürnbergs Gunsten geliefert: Dem AEG-Werk wurden demnach zu hohe anteilige Fixkosten der Europazentrale zugerechnet; in die Vergleichskalkulationen mit Polen waren die Anfangsinvestitionen für die Werke dort nicht eingegangen; die Amortisationszeiten für die Verlagerung waren zu niedrig angesetzt; und schließlich hätten die Konzernstrategen in Stockholm Überkapazitäten aufgebaut, weil sie die Marktentwicklung in Osteuropa überschätzten. Sollten die Belegschaften mit Jobverlusten dafür büßen?

Alles vergebens. Deshalb steht Jürgen Wechsler nun in der Kälte vorm Werkstor. Die Lautsprecheranlage wird schon eingepackt. Die Belegschaft ist erst einmal nach Hause gegangen. Wechsler sagt: "Die einzige Sprache, die die Manager verstehen, ist die des Marktes." Sollte es beim Aus für das Nürnberger Werk bleiben, werde man die deutschen Verbraucher auffordern, die Marke AEG zu boykottieren. An den Anstand der Manager zu appellieren habe keinen Sinn. Sie reagierten nur auf Macht, auf Gegenmacht.

Streik sei die klassische Antwort, und die müsse man nun geben. Die IG Metall Nürnberg hat eine Tarifkommission gebildet, die Verhandlungen über einen Sozialtarifvertrag fordert. Damit erlischt in dieser Frage die Friedenspflicht. Mit harten Streiks werde man entweder gute Abschiedskonditionen für die Kollegen erstreiten oder zumindest die Stilllegungskosten weit über die kalkulierten 230 Millionen Euro hinaus treiben.

Unter dem Druck der Ereignisse zieht sich der Funktionär auf die ganz eigenen Stärken der IG Metall zurück, auf ihre Kenntnisse des Arbeits- und Tarifrechts, die sie fintenreich nutzt. Nur einmal an diesem eisigen Nachmittag kommt Jürgen Wechsler für einen Moment ein Gedanke in den Kopf, der ihn in den letzten Wochen ziemlich fasziniert hatte. Er springt noch einmal auf die Lastwagen-Ladefläche, greift sich das Mikrofon und ruft: "Hoch lebe die internationale Solidarität."

Im Oktober, als die Entscheidung über das AEG-Werk noch offen schien, hatten die Arbeitnehmervertreter auf eine ganz große Strategie gesetzt. Electrolux hatte zur Jahresmitte bekannt gegeben, dass man aus Kostengründen 11 der 17 westeuropäischen Werke schließen wolle. Die Metallgewerkschaften in Deutschland, Italien, Spanien, Schweden und anderswo hatten daraufhin einen europäischen Kampftag ausgerufen. In etlichen Werken war es zu Arbeitsniederlegungen gekommen. Damals hatte Wechsler frohlockt: "Wir werden dem Europa der Konzerne ein Europa der Arbeitnehmer entgegensetzen. Ab heute sind alle Standorte in Europa solidarisch."

Nach Brüssel zu fahren, hatte er empfohlen, von wo aus der Europäische Metallgewerkschaftsbund die neue Strategie organisiere.

Brüssel , Mitte November. Die Schilder neben dem Eingang zum Haus Rue Royale Nr. 45 unweit des königlichen Palastes geben Buchstabenrätsel auf: "EFBH-FETBB-EFBWW", "FEM-EMF-EMB", "EPSU-FSESP-EGÖD". Die kryptischen Kürzel markieren die Adresse dreier internationaler Dachgewerkschaften, darunter der Europäische Metallgewerkschaftsbund, kurz EMB. Im zweiten Stock muss Generalsekretär Peter Scherrer gerade noch ein Telefonat beenden. Tatsächlich war Harald Dix am Apparat. Der Betriebsratsvorsitzende des Nürnberger AEG-Werks hatte einen Termin beim Arbeitsgericht hinter sich. "Der Informationsaustausch zwischen uns klappt", sagt Scherrer, "das auf jeden Fall." Sonst aber biete sein Job durchaus Frustrationspotenzial.