Die kleinen und die großen Tücken – Seite 1

Auf den ersten Blick scheint es, als habe die Regierung an alles gedacht: 54 Seiten umfassen die »Eckpunkte zu einer Gesundheitsreform 2006«, die den Fraktionen von Union und SPD am Dienstag vorgelegt wurden. Selbst Kenner der Materie kommen auf ihre Kosten, wenn beispielsweise angekündigt wird: »Bundesknappschaft und Seekrankenkasse werden geöffneten Betriebskrankenkassen gleichgestellt.« Für Kinder zahlt der Steuerbürger - in ferner Zukunft BILD

Doch in Wahrheit ist das Papier ein Dokument des Scheiterns. Von einem ihrer wichtigsten Ziele sind beide Regierungsparteien weiter entfernt als zuvor – die Kassenbeiträge werden nicht sinken, sondern steigen. Experten bezweifeln, dass die Reform tatsächlich zu Einsparungen führt, mehr Wettbewerb bringt und eine bessere Arbeitsteilung zwischen privaten und gesetzlichen Versicherungen bringt.

Noch dazu sind wichtige Fragen keineswegs endgültig geklärt – so ausführlich die Eckpunkte scheinen. In der Sommerpause werden die Beamten im Gesundheitsministerium einen Gesetzentwurf erarbeiten, und dann kommen noch die Beratungen im Parlament. Doch selbst wenn alle das Beste wollten, Folgende Schwachpunkte stehen jetzt schon fest:

Lohnnebenkosten: Der Satz stammt aus dem Wahlprogramm der CDU, aber er steht fast wortgleich in vielen Papieren der SPD: »Wir werden die Lohnzusatzkosten dauerhaft senken und verbinden dies mit zukunftsträchtigen Strukturveränderungen in den sozialen Sicherungssystemen«. Das sei entscheidend für Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt. Im CDU-»Regierungsprogramm 2005 – 2009«, vorgestellt vor fast genau einem Jahr, folgt die Ankündigung: »Im Gegenzug erhöhen wir die Mehrwertsteuer von 16 Prozent auf 18 Prozent.«

Lohnnebenkosten senken, dafür Verbrauchsteuern erhöhen: Dieses Prinzip war vor der Wahl in beiden Volksparteien kaum umstritten. Nun steigt Ende 2007 die Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte, und gleichzeitig sollen der Renten- und der Krankenkassenbeitrag jeweils um ein halbes Prozent wachsen. Die Krankenkassen warnen schon, dass eine Anhebung um mehr als 0,5 Beitragspunkte nötig sei. Das liegt auch daran, dass die Koalition bei vielen Sparposten vage blieb, dafür aber einige Ausgaben steigen – vor allem für die niedergelassenen Ärzte soll mehr Geld da sein als bisher. Sicher ist, dass aus der »Entkopplung der Gesundheitskosten von den Löhnen«, die CSU-Generalsekretär Markus Söder noch stolz ankündigte, vorläufig nichts wird. Zwar will die Große Koalition langfristig 16 Milliarden Euro Steuermittel ins Gesundheitssystem lenken, so viel kosten die Leistungen für Kinder. Aber bis zur nächsten Wahl geht sie den umgekehrten Weg: Noch 2006 fließen 4,2 Milliarden an die Kassen, 2007 und 2008 sollen es nur 1,5 Milliarden sein und 2009 drei Milliarden.

Private Krankenversicherung (PKV): Beide Volksparteien wollten mehr Wettbewerb zwischen gesetzlichen und privaten Versicherungen, im Detail hatten Union und SPD allerdings stets sehr unterschiedliche Pläne. Vereinbart ist nun, dass private Versicherungen jeden Interessenten mit einem Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze – also auch teure Risikopatienten – aufnehmen müssen. Privatpatienten, die ihre Kasse wechseln wollen, dürfen ihre Altersrückstellungen »mitnehmen«. Bisher hätten sie den Betrag beim Wechsel verloren, den ihre Versicherung für sie zurückgelegt hätte. Außerdem müssen die gesetzlichen Kassen auch wechselwillige Privatpatienten annehmen. Kaum beschlossen, wird dieser Punkt von allen Seiten kritisiert. »Das schadet den Krankenkassen, weil vor allem alte und kranke Versicherte wechseln werden, die bei der PKV viel bezahlen müssen«, warnt der SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach. Insgesamt, fürchtet er, »macht die PKV bei diesem Kompromiss ein Geschäft«. Gleichzeitig überlegen die privaten Versicherungen offenbar gegen die neue Annahmepflicht zu klagen. Wenn dies zu Mehrbelastungen für die PKV und damit für die bereits Versicherten führe, sei dies vermutlich rechtswidrig, sagt Verbandsdirektor Volker Leienbach. Bei den gesetzlichen Kassen wird eher befürchtet, dass die Annahmepflicht praktisch wirkungslos bleibt. Die PKV müsse künftig zwar jeden nehmen, könne aber bei teuren Versicherten besonders hohe Beiträge verlangen. Das würde Interessenten abschrecken.

Wettbewerb: Künftig sollen die Beiträge aller gesetzlich Versicherten nicht direkt an die Krankenkassen, sondern erst in einen großen Fonds fließen, der die Mittel anschließend verteilt. Die SPD hatte dies als eleganten Weg gesehen, auch Privatversicherten einen Beitrag zum Finanzausgleich der Krankenkassen abzuverlangen.

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Die Union wollte auf diesem Weg ihre lang geforderte Prämie einführen – eine einheitliche Abgabe für alle Versicherten. Nun kommt beides nicht wie geplant, weshalb der Wirtschaftsweise Bert Rürup fragt: »Wozu braucht man den Fonds überhaupt noch?« Die Beiträge für Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen nach der Anhebung Anfang 2007 eingefroren werden. Kommt eine Kasse nicht mit Zuweisungen aus dem Fonds aus, kann sie entweder eine einheitliche Prämie für alle Versicherten erheben oder einen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag.

Maximal fünf Prozent ihres gesamten Finanzvolumens sollen die Kassen durch solche Zusatzeinnahmen erzielen dürfen. Außerdem hat die SPD eine Härtefallregelung durchgesetzt, wonach die Prämie nicht mehr als ein Prozent des Einkommens der Versicherten betragen darf. Selbst der Dortmunder Ökonom Jürgen Wasem, der die Regierung bei der Konzeption des Fonds beraten hat, findet das Ergebnis »schräg und vor allem viel zu kompliziert« und fürchtet: »Das wird bei den Kassen zu sehr kruden Entscheidungen führen, und nicht zu dem Wettbwerb, den sich vor allem die Union davon verspricht.« Besonders aufwendig wird es für die Kassen, die Einkommen der Versicherten nur für die Erhebung der kleinen Extrabelastung zu ermitteln. Bisher berechnet der Arbeitgeber den Beitrag, schließlich kennt er die Löhne und Gehälter seiner Mitarbeiter. Künftig müssten die Kassen ihre Mitglieder anschreiben, um neben Löhnen andere Einkünfte zu erfahren.

Ein Kuriosum ist der Regierung mit dieser Festlegung auf jeden Fall gelungen: In beiden Parteien rechnen die Experten damit, dass es der jeweils anderen Seite nutzt. In der Union heißt es, kaum eine Kasse werde die einheitliche Prämie wählen, weil die Gewerkschaftsvertreter in den Gremien die Staffelung nach Einkommen erzwingen würden. Bei der SPD erwartet man stattdessen, dass sich die Prämie durchsetzt. Die Kassen seien dann interessanter für die besonders begehrten Spitzenverdiener, die von einem Einheitsbeitrag für alle Versicherten weniger belastet würden.

Fonds-Erfinder Wasem zieht deshalb ein skeptisches Resümee: »In diesem Kompromiss steckt auch viel, was den Wettbewerb verringert und nicht stärkt.«