Siemens trennt sich vom Kerngeschäft
Der Münchner Technologiekonzern und die finnische Nokia kooperieren bei den Telefonnetzwerken: Sie lagern ihre Sparten in ein gemeinsames Unternehmen aus. Die Anleger freuen sich, die Beschäftigten sind sauer: Bis zu 9.000 Job werden gestrichen
von BEATE WILLMS
Die Aktien hoben ab wie die Raketen. Siemens-Papiere sausten gestern um bis zu 9,6 Prozent hoch, Nokia schaffte zwischenzeitlich 5,2 Prozent. Anlass: Der deutsche Technologiekonzern und sein finnischer Konkurrent wollen große Teile ihrer Netzwerksparten, also der Geschäfte rund um die Telekommunikation, zusammenlegen.
Das neue Unternehmen mit dem Namen Nokia Siemens Networks wäre weltweit die Nummer drei hinter den demnächst fusionierten US-französischen Alcatel-Lucent Technologies und Nochbranchenführer Ericsson aus Schweden. Es hätte einen Umsatz von rund 15,8 Milliarden Euro. Siemens und Nokia wollen jeweils 50 Prozent der Anteile halten – auch „langfristig“, wie eine Nokia-Sprecherin sagte. Wenig Grund zur Freude haben zunächst die rund 60.000 Beschäftigten: Bis 2010 sollen bis zu 15 Prozent der Stellen wegfallen. Nokia und Siemens erwarten Einsparungen von jährlich rund 1,5 Milliarden Euro.
Die Telekommunikationssparte Com, die fast ein Viertel des Konzernumsatzes erwirtschaftet, ist eigentlich das Siemens-Kernstück – nicht nur weil Werner von Siemens das Unternehmen einst mit dem „Zeigertelegraphen“ gestartet hatte. Weltweit wird heute jedes dritte Telefongespräch im Festnetz mit Siemens-Technologie vermittelt. Doch zuletzt hat der Konzern den Anschluss verpasst.
Nun wird die Sparte zerschlagen: In das neue Gemeinschaftsunternehmen bringt Siemens die Mobilfunknetze und die Festnetzaktivitäten ein. Das Handygeschäft hatte der Konzern zuletzt schon abgegeben. Ihm bleiben der Bereich Industriefunklösungen, der in die Automatisierungssparte eingegliedert werden soll, und die firmeninternen Netzwerke, deren Perspektive noch unklar ist. Möglicherweise wird ein Finanzinvestor gesucht.
Siemens-Gesamtbetriebsratschef Ralf Heckmann und IG-Metall-Vize Berthold Huber kritisierten die Entscheidung und sprachen vom „bislang radikalsten Bruch in der Geschichte von Siemens“. Die Beschäftigten hätten schon auf Einkommen verzichtet und mehr gearbeitet, um den Bereich zu retten. Heckmann forderte, alle Standorte zu erhalten und niemanden mehr zu erlassen – das entspreche auch dem zuletzt mit Siemens geschlossenen Tarifvertrag.
Hauptsitz des neuen Unternehmens, das in den Niederlanden registriert werden soll, wird die finnische Hauptstadt Helsinki. Dafür bekommt München drei der fünf Geschäftseinheiten. Ob die mit den bisherigen Siemens-Com-Standorten übereinstimmen und wie viele Beschäftigte dort arbeiten sollen, blieb gestern unklar. In den letzten Jahren war die Zahl der Stellen in den Münchner Com-Werken mehr als halbiert worden. Im Mai hatte Siemens angekündigt, weitere 1.000 Jobs abzubauen.
Das geplante Jointventure ist der Versuch, in der Branche mitzuhalten. Der Markt mit seinem Umsatzvolumen von mehr als 100 Milliarden Euro wird gerade neu aufgeteilt. Dazu hat vor allem das Auftreten der ersten großen chinesischen Anbieter Huawei Technologies, UTStarcom und ZTE geführt. Die Reaktion der bislang führenden US-amerikanischen und europäischen Konzerne sind Fusionen und Kooperationen. Im vergangenen Jahr hatte sich Weltmarktführer Ericsson die britische Marconi einverleibt, Anfang dieses Jahres kündigten Alcatel und Lucent die Verschmelzung an. Verlierer dieses Verdrängungswettbewerbs sind die Beschäftigten. Der 10- bis 15-prozentige Stellenabbau von Nokia Siemens Networks liegt im Trend. Auch Alcatel und Lucent kündigten Einsparungen in dieser Größenordnung an. Hier geht es um mindestens 8.000 Arbeitsplätze.