Marconi Beschäftigte in Backnang verkauft und verraten?
In Backnang geht die Angst um den Arbeitsplatz um. Die IG Metall im Rems-Murr-Kreis hat Ericsson-Chef Carl-Henric Svanberg deshalb zur Mäßigung aufgerufen. Svanberg hatte angekündigt, dass er sich von bis zu 15 Prozent der weltweit 6.700 Marconi-Beschäftigten trennen will. Wie viele der 850 Marconi-Beschäftigten in Backnang davon betroffen sein könnten, ist unklar.
Heute, am Mittwoch den 9.11.05 sollen die Beschäftigten bei einer Veranstaltung im Bürgerhaus Informationen aus erster Hand bekommen. Ericsson-Chef Svanberg und Marconi-Chef Mike Parton stehen zur Diskussion bereit.
Anne Rieger, die Zweite Bevollmächtigte der IG Metall, verlangt, dass Ericsson die Drohung mit dem Abbau von Arbeitsplätzen zurücknimmt und zuerst ein Zukunftskonzept vorlegt. Rieger: "Das Ziel für Backnang muss dabei lauten, dass es an dem mittlerweile wieder erfolgreichen Standort keinen Arbeitsplatzabbau gibt und die Tarifbindung erhalten bleibt." Darüber hinaus fordern die IG Metall Vertrauensleute bei Marconi in Backnang Investitionen in Entwicklung, Forschung und Qualifikation sowie Vereinbarungen über
- den Erhalt und Weiterführung der Ausbildung
- die Weiterführung der Betriebsrente
- die Übernahme aller Betriebsvereinbarungen und Regelabsprachen
- den Erhalt aller zur Zeit in der Planung bestehenden Standorte!
- die Aufnahme von Verhandlungen um einen Interessenausgleich
und eine offene, transparente Informationspolitik.
Die Verunsicherung bei den Beschäftigten sei groß, berichten der Leiter der IG Metall-Vertrauensleute Uwe Schmidt-Harms und das IG Metall Ortsvorstandsmitglied Klaus Brosi, beide Betriebsratsmitglieder bei Marconi. Die Gefühlslage bewege sich zwischen Hoffen und Bangen. Einerseits sei die Erleichterung über das Ende der monatelangen Hängepartie groß. Auf der anderen Seite beherrsche die Angst vor einem weiteren Stellenabbau die Diskussionen unter den Kolleginnen und Kollegen. Brosi und Schmidt-Harms befürchten, dass zum Beispiel in der Verwaltung Jobs gestrichen werden könnten.
Trotzdem sei Ericsson die beste aller im Vorfeld gehandelten Optionen. Die langjährigen Beziehungen könnten eine reibungslose Integration erleichtern. Die Nachricht vom Verkauf an Ericsson kam für die Marconi-Angestellten in Backnang nicht überraschend. Die Verkaufsabsicht ist bereits seit Frühjahr bekannt. Damals hatte British Telecom Marconi einen lukrativen Großauftrag verwehrt. In der Zwischenzeit waren unter anderem Siemens, Alcatel und das chinesische Unternehmen Huawei als Interessenten gehandelt worden. Marconi arbeitet mit dem chinesischen Unternehmen seit Anfang des Jahres im Vertrieb zusammen.
Nicht von den Schweden übernommen wird der Produktbereich Integrated Systems. Er wird unter dem Namen Telent weitergeführt und soll bevorzugter Servicepartner von Ericsson werden. Die deutschlandweit 135 Mitarbeiter (80 in Backnang) von Integrated Systems betreuen unter anderem Behörden und Ministerien und sind beispielsweise für die Infrastruktur desMauterfassungssystems Toll Collect zuständig.
In Backnang erinnert man sich derzeit an den Übergang von Bosch zu Marconi im Jahr 1999. Damals hatte der Betriebsrat ? unterstützt durch Aktionen der Beschäftigten ? mit Bosch und Marconi eine Betriebsvereinbarung durchgesetzt, die die Rechte der Kolleginnen und Kollegen bis hin zur Betriebsrente abgesichert hatte. Es gab eine Standortgarantie und die Zusicherung, keine betriebsbedingten Kündigungen auszusprechen. Eine ähnliche Absicherung wird angestrebt. Der Betriebsrat fordert das seit einigen Wochen.
Schon vor drei Jahren ging bei Marconi in Backnang die Angst um. Damals sollte fast jeder dritte Arbeitsplatz weg fallen. Grund: Die Krise der Telekommunikationsbranche und das Missmanagement der Marconi-Bosse in London. Der Konzern stand kurz vor der Pleite und wurde von den Banken übernommen.
Marconi wurde Ende der 90er Jahre zusammengekauft. Der damalige Chef George Simpson hatte weltweit ? zum Großteil auf Pump - Telekommunikationsfirmen aufgekauft: Über 50.000 Menschen erwirtschafteten dann einen Jahresumsatz von 15 Milliarden Mark. In Deutschland übernahm Marconi den Bereich Öffentliche Netze von Bosch-Telekom. Die IG Metall bezeichnete die gigantische Einkaufstour schon damals als "halsbrecherisch". "Das war viel zu viel, viel zu schnell, häufig konzeptionslos und vor allem viel zu optimistisch hinsichtlich der Marktentwicklung", wird Betriebsrat Edward van Wijhe in einem Artikel der Metall-Zeitung vom Oktober 2002 zitiert.
Und schon im Januar 2000 wies Anne Rieger, in der Metall-Zeitung auf die Risiken der Marconi-Übernahme hin: Der britische Konzern, früher General Electric, sei im Bereich Telekommunikation noch sehr unerfahren. Rieger: "Marconi-Chef Simpson hat das einst größte Industrieunternehmen Großbritanniens in den vergangenen beiden Jahren voll auf Telekommunikation ausgerichtet. Von den einst über 100.000 Beschäftigten blieben noch 45.000 übrig." Bereiche wie das Rüstungsgeschäft, den Kraftwerk- und Schiffbau oder Haushaltsgeräte wurden verkauft. Simpson hatte die Nachfolge des legendären Industriellen Arnold Weinstock übernommen und damit einen Konzern, der Barmittel in Höhe von 2,9 Milliarden Euro angehäuft hatte.
In den besten Zeiten standen 4.600 Menschen auf den Lohn- und Gehaltslisten in Backnang. Die Stadt lebte Jahrzehnte lang mehr oder weniger von der Telekommunikation. Nur die Namen der Arbeitgeber wechselten von Telefunken zu AEG-Telefunken, dann zu ANT und schließlich zu Bosch-Telekom. Als Marconi einstieg, war die Zahl der Beschäftigten bereits auf 2.100 gesunken, stieg dann aber zunächst wieder an.