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Redebeitrag des Netzwerkes für eine kämpferische ArbeiterInnenbewegung

erstellt von Administrator zuletzt verändert: 01.05.2009 00:19
Im nachfolgenden dokumentieren wir den Redebeitrag des `Netzwerkes für eine kämpferische ArbeiterInnenbewegung' aus der Schweiz auf der Veranstaltung "Wie kann man erfolgreich gegen Massenentlassungen kämpfen" am 24. April 2009 in Nürnberg.

Am 7. März 2008 jagen vierhundertdreissig Arbeiter in der Officina von Bellinzona den Vertreter der Schweizerischen Bundesbahnen, kurz SBB, zum Teufel und beschließen ein-stimmig den unbefristeten Streik. Dieser Aufstand sieht auf den ersten Blick aus wie ein spontaner Protest, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Und sowas ausgerechnet im „Lande des Arbeitsfriedens“: In einem Land, in dem der Streik als gewerkschaftliche Waffe geächtet ist. In einem Land, dessen politische Linke einst mit Bewunderung auf die deutschen Gewerkschaften als kämpferisches Beispiel blickte. Wie ist in einem solchen Land ein Streik möglich, der inzwischen weit über die Landesgrenzen hinaus als Vorbild gilt?

Was oberflächlich gesehen wie eine spontane Revolte aussieht, ist in Wirklichkeit ein hervorragend organisierter Kampf, der auf einer soliden gewerkschaftlichen Aufbauarbeit im Betrieb beruht. Es sind engagierte Arbeiter um Gianni Frizzo, die bereits vorher, seit zehn Jahren, im Komitee „Giù le mani dall’Officina di Bellinzona“ (Hände weg von der Werkstätte von Bellinzona) aktiv gegen den schleichenden Arbeitsplatzabbau und gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen gekämpft haben. Aus diesem harten Kern aktiver Arbeiter wird das Streikkomitee gebildet. Während und auch nach dem Streik organisiert dieses Streikkomitee den Kampf und führt alle Verhandlungen mit der Gegenseite. Legitimiert wird das Streikkomitee durch die Arbeiterversammlung. Sie entscheidet in allen wich-tigen Fragen, insbesondere über Verhandlungsangebote der Gegenseite. Diese radikale Arbeiterdemokratie – das Streikkomitee spricht in diesem Zusammenhang von „democrazia assoluta“ – ist die Grundlage, das Rückgrat der Bewegung und die wichtigste Voraussetzung für den erfolgreichen Kampf.

Der Streikfilm „Giù le mani“ beginnt mit dem Aufstand vom 7. März. Wenig bekannt sind die entscheidenden Tage zuvor. Denn es wäre naiv zu glauben, 430 Arbeiter würden sich ein-fach eines schönen Tages im Betrieb versammeln und einstimmig den unbefristeten Streik beschließen. An diesem Tag sind in Wirklichkeit die Würfel bereits gefallen, das Kräfteverhältnis zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft hat sich schon vorher zugunsten der Belegschaft verändert.

Nachdem die Schließungspläne gegen Ende Februar 2008 durchgesickert sind, beginnt das spätere Streikkomitee mit der Mobilisierung der Belegschaft. Etwa die Hälfte der Beschäftigten verlassen eines Nachmittags den Arbeitsplatz und begeben sich ins nahe gelegene Volkshaus zu einer Versammlung. Am folgenden Montag, 3. März verlässt erneut ein Großteil der Beschäftigten während der Arbeitszeit den Betrieb und marschiert in einem Demonstrationszug zum Sitz der Regionalregierung, wo sie von einem Vertreter der Tessiner Regierung empfangen werden. Am nächsten Tag geht der Kampf weiter. Diesmal ist der Sitz der SBB-Zentrale in Bern das Ziel der Arbeiterdemonstration. Mit andern Worten: Bereits zu Wochenbeginn findet eine zweitägige Arbeitsniederlegung statt. Erst am Mittwoch, 5. März wird die Arbeit wieder aufgenommen und eine Betriebsversammlung für den folgen-den Tag angekündigt. Nun ist es die Werksleitung der Officina, die reagiert. Sie ruft die Personalkommission zu sich und verbietet ausdrücklich die Abhaltung der angekündigten Versammlung im Betrieb während der Arbeitszeit. Damit kommt es zu einer ersten Kraftprobe: Wem werden die Arbeiter Folge leisten? Ihrer Werksleitung oder den Aktivisten des Komitees?

Wie nahe Sieg und Niederlage beieinander liegen, illustriert das große Spruchband, das bei Kundgebungen stets mitgetragen wird – auch nach dem Streik, so beispielsweise anlässlich der Uraufführung des Films „Giù le mani“ am 15. August 2008 in Locarno. Auf dem Spruch-band steht: „Die Arbeiter der Werkstätte von Bellinzona sind entschlossen, ihren Arbeitsplatz zu verteidigen.“ Das Wort „Bellinzona“ ist aufgenäht, dahinter steht das Wort „Biasca“. Biasca ist eine Ortschaft etwa 30 km nördlich von Bellinzona. Dort gab es ebenfalls einen Unterhaltsbetrieb der Schweizerischen Bundesbahnen, der einige Jahre zuvor im Rahmen von Restrukturierunen geschlossen wurde. Dort ging der Kampf um die Arbeitsplätze verlo-ren. Auch die gleichzeitige Streichung von 70 Arbeitsplätzen in der Officina von Bellinzona konnte das Arbeiterkomitee nicht verhindern. Und die Eisenbahnergewerkschaft SEV hatte dem Abbau als „kleinerem Übel“ zugestimmt.

Diese unternehmerfreundliche Haltung der Gewerkschaftsführung musste schon damals zu einem tiefen Riss zwischen dem späteren Streikkomitee und der Eisenbahnergewerkschaft SEV geführt haben. Ein Riss, der sich in den folgenden Jahren weiter vertiefte und damit endete, dass alle führenden Arbeiteraktivisten der Officina von Bellinzona auf Ende des Jahres 2007 aus dem SEV austraten und sich der Gewerkschaft Unia anschlossen, deren lokale Sektion ihre Anliegen unterstützte. An die Friedenspflicht gebundener Vertragspartner der SBB blieb selbstverständlich der SEV. Dieser Widerspruch ließ jedoch die SBB-Manager keinen Verdacht schöpfen. Nichtsahnend trieben sie ihre Restrukturierungspläne voran. Dazu gehörte auch die geplante Schließung der Officina von Bellinzona mit der Verlagerung des Lokomotivunterhalts nach Yverdon in der französischen Schweiz und der Privatisierung des Güterwagenunterhalts an einen lokalen Unternehmer.

Das ist also die Ausgangslage Anfang März 2008: Auf der einen Seite das SBB-Management und ihre Absicht, die Officina in Bellinzona zu schliessen. Auf der andern Seite ein harter Kern von aktiven Arbeitern, die der vertraglich gebundenen Gewerkschaft SEV den Rücken gekehrt und sich der Gewerkschaft Unia angeschlossen haben sowie eine zum Kampf entschlossene Belegschaft. Dazwischen die Werksleitung, die weitere vertragswidrige Kampfaktionen und insbesondere die angekündigte Betriebsversammlung vom Donnerstag, 6. März ausdrücklich verboten hat. Wie reagieren die einzelnen Arbeitnehmer auf dieses Verbot? Sind sie bereit, vorsätzlich und willentlich gegen das gesetzliche Weisungsrecht des Arbeitgebers zu verstoßen? Überschreitet die Bewegung diese Grenze oder fällt sie hinter ihre Ausgangslage zurück?

Am Morgen des 6. März beginnen die Arbeiteraktivisten im hinteren, nördlichen Teil des Betriebes und holen die Kollegen aus den Abteilungen heraus. Rasch schwillt der Zug an, Abteilung um Abteilung entleert sich, bis schließlich alle am andern Ende des Werksgeländes in der großen Halle der „Pittureria“ versammelt sind, wo normalerweise die Lokomotiven gespritzt werden. Damit ist die Macht der Werksleitung gebrochen. Bewahrheitet haben sich die Worte von Gianni Frizzo, der tags zuvor als Präsident der Personalkommission seinem Direktor erklärt hat: „Von heute an befehlen hier nicht mehr Sie als Direktor, sondern die Arbeiter.“

Am nächsten Morgen, dem 7. März 2008, empfangen die in der Halle der Pittureria verammelten Arbeiter den Vertreter der obersten Unternehmensleitung. Die Szene, die auch am Anfang des Streikfilms „Giù le mani“ zu sehen ist, beginnt mit einem Tabubruch: Gianni Frizzo, der Wortführer der Arbeiter, hindert den SBB-Manager am Reden und lässt ihn einzig die Frage nach der Schließung der Officina mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Nachdem der sichtlich verunsicherte Mann sich ein gequältes Ja hat entlocken lassen, jagen ihn die Arbeiter mit Schimpfe und Schande aus der Halle und beschließen ein-stimmig den unbefristeten Streik. Diese zweite Kraftprobe wird von Gianni Frizzo als entscheidender Augenblick gewertet: Hätte er den SBB-Manager ausreden lassen, wäre die Gefahr groß gewesen, dass dieser einen Teil der Belegschaft mit falschen Versprechungen hätte verunsichern und so die Streikbewegung gleich zu Beginn hätte spalten können. Nachdem die Arbeiter nun den unbefristeten Streik beschlossen haben, besetzen sie gleichentags das Werk und bewachen es rund um die Uhr. Symbolisch wird das Zugangsgeleise zum Werk verschweißt, und am nächsten Tag besetzen sie in einem Demonstrationszug zum Bahnhof von Bellinzona kurzzeitig die Geleise der internationale Eisenbahnlinie.

Der am 7. März von Streikkomitee und Arbeiterversammlung ausgerufene Streik gilt als „wilder Streik“, da nicht von einer offiziellen Gewerkschaft beschlossen und angekündigt. Das bei Massenentlassungen und Betriebsschließungen übliche Verfahren wird damit entscheidend gestört, zumal das Streikkomitee den Gewerkschaften verbietet, Sozialplanverhandlungen zu führen, solange der Streik andauert. Für einmal geht es nicht darum, wieviele Arbeitsplätze gestrichen, wieviele erhalten bleiben und zu welchen Bedingungen Leute entlassen werden. Vielmehr lautet die unmissverständliche Forderung der Arbeiter: Die SBB müssen den Entscheid, das Industriewerk Bellinzona zu schließen, rückgängig machen! Erst danach kann über dessen Zukunft verhandelt werden. Mit dieser Forderung, welche die Gegenseite als „kompromisslos“ und „unrealistisch“ qualifiziert, wird erfolgreich verhindert, dass die Arbeiter gegeneinander ausgespielt werden.

Die Streikbewegung in den Officine von Bellinzona entwickelt ab dem 7. März 2008 eine ungeahnte Dynamik und stellt die bisherigen Machtverhältnisse auf den Kopf. Dies vor allem, weil die Arbeiter – wie erwähnt - nicht nur in den Streik treten, sondern sogleich den Betrieb besetzen und rund um die Uhr bewachen. Mit der Betriebsbesetzung entziehen die Arbeiter das Werk der Verfügungsgewalt des „rechtmässigen“ Besitzers und bringen es vorübergehend in ihren Besitz. So entsteht ein eigentlicher Stützpunkt der Arbeitermacht, gewissermassen eine „befreite Zone“ oder - aus der Sicht der Gegenseite – ein „rechtsfreier Raum“.

Der besetzte Betrieb wird in wenigen Wochen zu einem sozialen Zentrum, einem Ort der Begegnung und der Solidarität für die ganze Bevölkerung. Der Streik findet breite Unterstützung in der Tessiner Bevölkerung. Das zeigt sich einerseits in großzügigen Spenden für die Streikkasse, andererseits in machtvollen Straßendemonstrationen. Diese Solidaritätswelle erfasst den ganzen Kanton. Der Grund dafür ist nicht nur die tiefe Verwurzelung der Officine in der Tessiner Bevölkerung, sondern vor allem auch auch das Gefühl, dass es endlich jemand wagt, es den „arroganten, geldgierigen und machthungrigen Managern“ zu zeigen.

Der Streik in den Officine von Bellinzona hat bekanntlich mit einem Sieg für die Arbeiter geendet: Konkret mit der Zusage, dass die Arbeitsplätze bis 2010 gesichert seien. Nach dem Ende des Streiks liegt die Macht im Betrieb noch immer völlig in den Händen des Streikkomitees und der Arbeiterversammlung. Eine Liste von neun Forderungen des Streikkomitees wird von der Direktion bedingungslos geschluckt. In den folgenden Monaten wird am sog. „Runden Tisch“ über die Zukunft des Industriewerks Bellinzona verhandelt. Die Vertreter der SBB weigern sich allerdings, dem Streikkomitee schriftliche Garantien über das Jahr 2010 hinaus zu geben. Deshalb beschließt erneut eine Arbeitervollversammlung: Am Freitag, 28. November werden die Arbeiter, statt arbeiten zu gehen, nach Bern fahren und machen Bundesrat Leuenberger einen „Höflichkeitsbesuch“. Die Drohung mit dem Warnstreik hat genügt: Die SBB-Führung schlägt dem Streikkomitee für den gleichen Tag ein klärendes Gespräch mit dem Verwaltungsrat vor, falls die geplante Demo abgesagt werde. Am gleichen Abend noch wird in einer SBB-Presseerklärung die Zukunft des Industriewerks Bellinzona bis 2013 schriftlich zugesichert.

Das „Wunder von Bellinzona“ besteht also darin, dass mit dem „Befreiungsschlag“ vom 7. März das Kräfteverhältnis von einem Tag auf den andern massiv zu Gunsten der Arbeiter verschoben worden ist. Auf diese Weise ist die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst, wie sie üblicherweise zwischen den Arbeitern verschiedener Nationalitäten und Kulturen, zwischen Gelernten und Ungelernten, zwischen Festangestellten und Zeitarbeitern besteht, auf einen Schlag in den Hintergrund getreten. Die zumindest zeitweise Überwindung der Spaltung unter den Arbeitern ist die Voraussetzung für jeden entschlossenen und solidarischen Kampf für ihre gemeinsamen Interessen. Das Beispiel der Officine von Bellinzona zeigt nun, dass dies nicht langsam und allmählich geschieht, sondern schlagartig in dem Augenblick, als eine Gruppe entschlossener Arbeiter es versteht, zum Kampf aufzurufen und die andern mitzureißen. Somit erweist sich der harte Kern von entschlossenen ArbeiterInnen, die das Vertrauen ihrer KollegInnen genießen, als die entscheidende Voraussetzung für einen solidarischen Kampf und damit gleichzeitig zur Überwindung der Konkurrenz unter den Arbeitern.

Der Ausgang des Streiks in Bellinzona kann als „Glücksfall“ bezeichnet werden, sofern man darunter das Zusammentreffen verschiedener vorteilhafter Umstände versteht: Vorerst ein-mal das Vorhandensein eines Kerns aktiver und klassenbewusster Arbeiter im Betrieb als unverzichtbare Voraussetzung jedes erfolgreichen Kampfes. Zweitens hat das vorzügliche Zusammenspiel zwischen Streikkomitee und Arbeiterversammlung als Motor der Bewegung sichergestellt, dass ihnen während der ganzen Dauer des Kampfes dessen Führung nicht aus den Händen geglitten ist. Als entscheidend über Sieg oder Niederlage muss allerdings die Fähigkeit beurteilt werden, gleich zu Beginn des Streiks mit der nötigen Entschlossen-heit den Betrieb zu besetzen und als Zentrum des Kampfes sowie als Ausgangspunkt für dessen Ausdehnung auf die ganze Bevölkerung zu nutzen. Einmal mehr soll deshalb ausdrücklich auf die Wichtigkeit sowohl dieser Kampfmassnahme, als auch dessen Zeitpunkt hingewiesen werden: Nur die rasche Betriebsbesetzung, dieser „Eingriff in die bürgerliche Rechtsordnung“, hat es erlaubt, die bisherigen Machtverhältnisse auf den Kopf zu stellen und rechtzeitig eine „Gegenmacht“ zu errichten: die Arbeitervollversammlung mit dem Streikkomitee und der Solidarität der Bevölkerung als Druckmittel auf die politischen Instanzen.

Die aneinander gereihten Arbeitshosen hängen als Symbol des Streiks noch immer in der großen Halle der „Pittureria“, ebenso wie die zahlreichen Spruchbänder, Fahnen und Solidaritätsbotschaften. Auch ein Jahr später sind in allen Abteilungen des Industriewerks Bellin-zona noch immer die roten Streikfahnen „Giù le mani dall’Officina di Bellinzona“ zu sehen. Diese Kampfsymbole erinnern nicht nur an den erfolgreichen Streik, sondern signalisieren, dass in diesem Betrieb eine nachhaltige Veränderung zu Gunsten der Beschäftigten stattgefunden hat und dass der Kampf nie zu Ende ist, sondern immer weitergeht, solange es Lohnarbeit gibt. Die Werksleitung darf zwar ihr Weisungsrecht in Bezug auf die Kundenaufträge und die Organisation der Arbeit wieder ausüben. Gleichzeitig soll sie sich jedoch davor hüten, die Solidarität der Belegschaft und Arbeitermacht im Betrieb anzugreifen. Deren Bedeutung kann am Beispiel der Zeitarbeit aufgezeigt werden: Das allmähliche Wegschmelzen der Stammbelegschaft und deren Ersetzung durch Zeitarbeiter ist heute wahrscheinlich die größte Bedrohung für die Zukunft der Officina. Das Streikkomitee hat diese Gefahr rechtzeitig erkannt und erst kürzlich mit der Werksleitung ausgehandelt, dass bis im Sommer ein Drittel aller temporär Beschäftigten fest angestellt werden müssen und ein weiteres Drittel bis im Herbst. Die scheinbar völlig kampflose Durchsetzung einer solchen Forderung mag erstaunen. Sie zeigt mit aller Deutlichkeit die Macht einer geeinten Belegschaft, nachdem es unzähligen Schwierigkeiten zum Trotz gelungen ist, mit dem entschlossenen und solidarischen Kampf die Spaltung unter den Beschäftigten zu überwinden.

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